Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 2264/97 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
- der Frau K...,
- des Herrn K...,
- der mdj. K...,
und Partner, Colonnaden 72 II, Hamburg -
gegen | den Beschluß des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 16. Oktober 1997 - OVG Bs III 71/97 - |
und | Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Seidl,
die Richterin Haas
und den Richter Hömig
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473)
am 30. Dezember 1997 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung
angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Eilverfahren gegen die sogenannte Rechtschreibreform.
I.
1. Die 1987 geborene Beschwerdeführerin zu 3 besucht derzeit die 5. Klasse eines Gymnasiums. Sie wendet sich zusammen mit ihren Eltern, den Beschwerdeführern zu 1 und 2, dagegen, daß sie - auf der Grundlage des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 30. November/1. Dezember 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung und nach näherer Maßgabe einer diesen Beschluß umsetzenden Regelung der Schulbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg - nach den Regeln der Rechtschreibreform unterrichtet wird. Im August 1997 beantragten die Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO mit dem Ziel, der Freien und Hansestadt Hamburg als Antragsgegnerin vorläufig zu untersagen, die Beschwerdeführerin zu 3 nach den neuen Rechtschreibregeln zu unterrichten. Gleichzeitig erhoben sie Unterlassungsklage, über die noch nicht entschieden ist.
2. Mit dem angegriffenen Beschluß hat das Oberverwaltungsgericht - unter Abänderung der gegenteiligen erstinstanzlichen Entscheidung - die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die in der Literatur geäußerte Rechtsansicht, daß die Sprache dem Volk gehöre, vorstaatlich sei und vom Staat deshalb nicht hoheitlich angeordnet werden dürfe, werde geteilt. Der Staat habe keine Vollmacht zur Sprachbeeinflussung und Sprachlenkung. Soweit er die Aufgabe habe, die Schüler zu lehren, könne die dafür erforderliche Normierung jeweils nur Revision, also Durchsicht des Regelwerks mit Blick auf eingetretene Veränderungen, nicht aber Motor der Änderung sein. Danach sei die Neuregelung der Rechtschreibung ohne Rechtsgrundlage, wenn sie ganz oder in Teilbereichen nicht Aufnahme bereits eingetretener Veränderungen im Schreibverhalten der Sprachgemeinschaft darstelle, sondern Motor für eine angestrebte Veränderung der Rechtschreibung sein wolle. Eine solche Grenzüberschreitung könnte auch durch ein Gesetz nicht geheilt werden.
Letztlich bedürfe es jedoch insoweit keiner abschließenden Prüfung. Denn der Erlaß einer einstweiligen Anordnung scheitere daran, daß die Beschwerdeführer einen Anordnungsgrund nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO nicht glaubhaft gemacht hätten. Auch im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach bei Eilanträgen nach § 123 VwGO, gerade in Schulsachen, die besondere Bedeutung der betroffenen Grundrechte und die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG zu beachten seien, bedürfe es hier keiner vorläufigen Regelung, um den Interessen der Beschwerdeführer gerecht zu werden. Zwar werde die Beschwerdeführerin zu 3 bereits jetzt nach der von den Kultusministern beschlossenen Neuregelung der Rechtschreibung unterrichtet; sie erhalte aber zugleich Unterricht nach der bisher geltenden Übung. Dies entspreche nicht nur der Vereinbarung, die die Beschwerdeführer bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage mit der Leitung des Gymnasiums getroffen hätten. Anders könne der Unterricht auch gar nicht erteilt werden, wenn die Lehrkräfte eine Verunsicherung der Schüler vermeiden wollten. Deshalb könne die Beschwerdeführerin zu 3 in der Schule nach den überkommenen Regeln schreiben, ohne daß ihr dies als fehlerhaft angerechnet werde. Werde die Rechtschreibreform schließlich nicht verwirklicht, habe die Beschwerdeführerin zwar entsprechende Übungen in der Schule vergeblich unternommen; sie habe aber zugleich auch die überkommene Rechtschreibung erlernt und damit den gleichen Ausbildungsstand wie andere Schüler ihres Jahrgangs erreicht. Werde sich die Reform dagegen durchsetzen, vermeide die derzeitige Praxis, daß die Beschwerdeführerin zu 3 einen Nachteil erleide, der eintreten würde, wenn sie im Gegensatz zu anderen Schülern nicht nach den reformierten Regeln unterrichtet würde. Die Beschwerdeführer zu 1 und 2 seien ohnehin nicht gezwungen, ihre Schreibweise der Reform anzupassen.
II.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG und die Beschwerdeführer zu 1 und 2 außerdem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Gleichzeitig begehren sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung mit dem Antrag, die Vollziehung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
Zur Begründung tragen sie im wesentlichen vor:
Die Einschränkung ihrer als verletzt bezeichneten materiellen Grundrechte sei nur aufgrund einer gesetzlichen Regelung möglich. In grundrechtsrelevanten Bereichen müsse der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und dürfe sie nicht der Verwaltung überlassen. Dazu gehöre im Schulwesen jedenfalls die Festlegung von Schulinhalten, wenn diese in ihren Grundzügen gegenüber dem herkömmlichen staatlichen Bildungsangebot in wesentlichen Punkten geändert werden sollten. Bei der verbindlichen Einführung der neuen Rechtschreibung sei dies - auch für die Übergangszeit bis zum Schuljahr 1998/99 - der Fall.
Soweit das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung darauf stütze, daß ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht worden sei, sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Der angegriffene Beschluß stelle eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Zwar treffe es zu, daß es eine Vereinbarung zwischen ihnen und dem von der Beschwerdeführerin zu 3 besuchten Gymnasium gebe; diese Vereinbarung habe das Oberverwaltungsgericht aber fehlinterpretiert. Die Formulierung "Bis zur endgültigen Klärung der Frage, wie mit der Einführung der neuen Rechtschreibung zu verfahren ist" sei mit Blick auf die vorangegangene Korrespondenz dahin zu verstehen, daß es sich nur um eine "Zwischenvereinbarung" für die Dauer des Beschwerdeverfahrens vor dem Oberverwaltungsgericht habe handeln sollen. Das Gericht hätte sie, bevor es derartiges zur Entscheidungsgrundlage hätte machen dürfen, zumindest hierzu hören müssen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist.
1. Die materiellrechtlichen Rügen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind unzulässig, weil sie am maßgeblichen Inhalt der angegriffenen Entscheidung vorbeigehen.
Das Oberverwaltungsgericht hat ausdrücklich keine Entscheidung zum Anordnungsanspruch und damit in der Sache getroffen, insbesondere ausdrücklich offengelassen ("... bedarf es an dieser Stelle keiner abschließenden Prüfung"), ob die Einführung der neuen Rechtschreibregeln einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Tragender Grund für die Ablehnung der Eilanträge war vielmehr die Verneinung eines Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache. Darauf beziehen sich die Rügen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch nicht. Es fehlt deshalb insoweit an der substantiierten Darlegung eines Verfassungsverstoßes, auf dem die Entscheidung beruhen könnte (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG).
2. Unzulässig ist auch die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe unter dem Aspekt einer unzulässigen Überraschungsentscheidung den Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es unter Verkennung der von ihnen lediglich als "Zwischenlösung" für das Beschwerdeverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht gedachten Vereinbarung mit dem Gymnasium einen Anordnungsgrund verneint habe.
a) Die Rüge genügt ebenfalls nicht den gesetzlichen Begründungserfordernissen nach § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 und § 92 BVerfGG. Das Beschwerdevorbringen läßt nicht erkennen, daß die angegriffene Entscheidung auf dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG beruht.
Das Oberverwaltungsgericht hat das - entscheidungserhebliche - Fehlen der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes damit begründet, daß die Beschwerdeführerin zu 3 sowohl nach der von den Kultusministern beschlossenen Neuregelung der Rechtschreibung, aber weiter auch nach der bisher geltenden Übung unterrichtet werde. Dies entspreche nicht nur der Vereinbarung, die die Beschwerdeführer bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage mit der Leitung des von der Beschwerdeführerin zu 3 besuchten Gymnasiums getroffen hätten. Denn anders könne der Unterricht auch gar nicht erteilt werden, wenn die Lehrkräfte eine Verunsicherung der Schüler vermeiden wollten. Deshalb könne die Beschwerdeführerin zu 3 in der Schule nach den überkommenen Regeln schreiben, ohne daß ihr dies als fehlerhaft angerechnet werde.
Von dieser doppelten Begründung greifen die Beschwerdeführer nur den Teil an, der sich auf ihre Vereinbarung mit der Leitung des genannten Gymnasiums bezieht. Daß die Beschwerdeführerin zu 3 nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts unabhängig davon auch nach dem Sinn der Neuregelung über die Rechtschreibung nach alter und neuer Schreibung unterrichtet wird und deshalb, ohne schulische Nachteile besorgen zu müssen, weiterhin auch nach den bisherigen Regeln schreiben kann, ist dagegen nicht Gegenstand von Rügen der Beschwerdeführer. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, daß die angegriffene Entscheidung auf dem von den Beschwerdeführern geltend gemachten Gehörsverstoß beruht (vgl. BVerfGE 82, 236 <256 f.>).
b) Der Zulässigkeit der Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG steht im übrigen auch der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde entgegen.
Danach muß ein Beschwerdeführer - jenseits des Erfordernisses der Erschöpfung des Rechtswegs - alle ihm zumutbaren prozessualen Möglichkeiten wahrnehmen, um ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts die behauptete Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. etwa BVerfGE 81, 22 <27>; 81, 97 <102 f.>). Hier haben die Beschwerdeführer die Möglichkeit, durch einen Antrag entsprechend § 80 Abs. 7 VwGO beim Gericht der Hauptsache eine Korrektur des von ihnen geltend gemachten Gehörsverstoßes zu erreichen (vgl. BVerfGE 70, 180 <187 ff.>; Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 1995, NVwZ-Beilage Nr. 9/1995, S. 65; vgl. auch zur Befugnis der Verwaltungsgerichte, im Verfahren des § 123 VwGO ergangene letztinstanzliche Eilbeschlüsse zu ändern und aufzuheben, Kopp, VwGO, 10. Aufl. 1994, § 123 Rn. 39; Redeker/v. Oertzen, VwGO, 12. Aufl. 1997, § 123 Rn. 29; Schoch, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Mai 1997, § 123 Rn. 174 ff. <177>; jeweils m.w.N.). Es ist nicht ersichtlich und von den Beschwerdeführern auch nicht geltend gemacht worden, daß dieser Weg für sie unzumutbar sein könnte.
IV.
Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Seidl | Haas | Hömig |