BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 9/96 -
In dem Verfahren
zur
verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit er an der Kindergeldminderung für das zweite Kind in den Jahren 1983 und 1984 aufgrund des § 10 Abs. 2 BKGG in der Fassung des Art. 13 Nr. 2 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 unter bestimmten Voraussetzungen auch in Fällen festhält, in denen keine bindend gewordene Minderungsentscheidung ergangen war,
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des
Sozialgerichts
Lüneburg vom 22. Dezember 1995 (S 7 Kg 27/92) -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Grimm,
Hömig
gemäß § 81 a BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 30. November 1999 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
I.
Die Vorlage betrifft Fragen der nachträglichen Anhebung von Kindergeld für die Jahre 1983 und 1984.
1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens bezog in den Jahren 1983 und 1984 nur Kindergeld in Höhe der Sockelbeträge. Aufgrund seiner Einkommensverhältnisse war damit zur rechnen, daß auf ihn die Kürzungsregelung für Besserverdienende Anwendung fand. Der Kläger nahm eine Kürzung seines Kindergeldes für das Jahr 1983 aufgrund eines vorläufigen Bescheides vom 9. Juli 1983 hin und beantragte für das Jahre 1984 nur den Sockelbetrag. Eine Erhöhung des Kindergeldes beantragte der Kläger auch dann nicht, als ihm die Einkommensteuerbescheide für die maßgeblichen Bezugsjahre im Oktober 1982 und im Oktober 1983 zugegangen waren. Mit Widerspruchsschreiben vom März 1985 behielt er sich für den Fall der Verfassungswidrigkeit der Kürzungsregelung die Forderung des vollen Kindergeldes vor.
2. Auf diese Forderung kam der Kläger zurück, nachdem die Kürzungsregelung für Besserverdienende durch Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG erklärt worden war (vgl. BVerfGE 82, 60 <78 ff.>). Im Hinblick auf diese Entscheidung wurde im Rahmen der Steuerrechtsänderungsgesetze von 1991 und 1992 eine Regelung zur nachträglichen Anhebung des Kindergeldes geschaffen. In dieser Regelung wurde die Nachzahlung von Kindergeld auf Verfahren beschränkt, in denen noch keine bindende Behördenentscheidung vorlag. Ferner sollte eine Nachzahlung auch in den Fällen unterbleiben, in denen der Berechtigte nur den Sockelbetrag beantragt und die Einkommensteuerbescheide nicht rechtzeitig vorgelegt hatte. Die maßgebliche Vorschrift des § 44 e Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl I S. 168) lautet:
§ 44e
Sonderregelung
für die Kindergeldminderung
in den Jahren 1983 bis 1985
(1) Die Minderung des Kindergeldes für das zweite Kind nach § 10 Abs. 2 entfällt für die Jahre 1983 bis 1985 in Fällen, in denen über die Minderung noch nicht bindend entschieden worden ist. Dies gilt auch für Fälle, in denen die Minderungsentscheidung nach dem 28. Mai 1990 bindend geworden ist und die Nachzahlung auf Grund dieser Vorschrift innerhalb von 6 Monaten nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem das Steueränderungsgesetz 1991 vom 24. Juni 1991 (BGBl. I S. 1322) verkündet worden ist. Ist es auf Grund der Erklärung des Berechtigten, er verlange bis auf weiteres nur die Zahlung des Sockelbetrages, nicht zu einer Minderungsentscheidung gekommen, so entfällt die Minderung nach Satz 1 nur, wenn der Berechtigte die Erklärung vor Bekanntgabe der für die Minderung maßgeblichen Steuerfestsetzung abgegeben hatte und vor Ablauf des sechsten Monats nach dem Monat, in dem diese Steuerfestsetzung bekanntgegeben worden ist, die Zahlung höheren Kindergeldes verlangt hat...
Im Hinblick auf diese Regelungen lehnte die Widerspruchsbehörde eine nachträgliche Erhöhung des Kindergeldes ab. Für das Jahr 1983 scheide eine nachträgliche Erhöhung gemäß § 44 e Abs. 1 Satz 1 BKGG aufgrund des bestandskräftigen Bescheides vom 9. Juli 1983 aus. Für das Jahr 1984 habe der Kläger nur den Sockelbetrag beantragt und nicht innerhalb der Frist des § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG eine Erhöhung verlangt.
3. Im anschließenden Rechtsstreit setzte das Sozialgericht das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Vorschrift sei für die Entscheidung des Rechtsstreits insgesamt erheblich, weil für das Jahr 1983 höchstwahrscheinlich und für das Jahr 1984 mit Sicherheit keine bindende Entscheidung über die Minderung vorliege.
Die in der Vorschrift enthaltene Befristung für die Geltendmachung des Erhöhungsanspruchs verstoße gegen das in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltene Vertrauensschutzprinzip. Der Bürger habe seinerzeit darauf vertrauen dürfen, daß sein Kindergeldanspruch außer durch die verfassungsrechtlich zu prüfende Vorschrift des § 10 Abs. 2 BKGG nur durch die allgemeinen Ausschlußgründe der verspäteten Antragstellung, des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen, der förmlichen Entziehung und der Verjährung entfallen könnte. Diese allgemeinen Ausschlußtatbestände lägen aber nicht vor, so daß dem Berechtigten die Kindergeldansprüche nicht vorenthalten werden dürften.
Die Regelung verstoße auch gegen die aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG fließende Verpflichtung des Gesetzgebers, die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Benachteiligung steuerpflichtiger Familien in den nichtbestandskräftig abgeschlossenen Fällen zu beheben. Dieser Verpflichtung habe sich der Gesetzgeber unter Mißachtung der in § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordneten Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen entzogen.
Schließlich genieße der Erhöhungsanspruch des Kindergeldberechtigten Eigentumsschutz. Seine Aberkennung in der zur Prüfung gestellten Norm durch lange Jahre danach zusätzlich aufgestellte Anspruchskriterien sei ohne Ausgleichsleistung mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar.
II.
Die Vorlage ist unzulässig.
1. Die Richtervorlage genügt nicht den Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 BVerfGG. Nach dieser Vorschrift muß die Begründung angeben, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des vorlegenden Gerichts abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsvorschrift sie unvereinbar ist. Dem genügt eine Richtervorlage nur, wenn das Gericht die für seine Entscheidung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegt und sich dabei jedenfalls mit naheliegenden Gesichtspunkten auseinandersetzt (vgl. BVerfGE 86, 52 <57>; 88, 198 <201>). Dabei hat es auch die in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Rechtsauffassungen zu berücksichtigen, die für die Auslegung und Prüfung der in Frage stehenden Norm von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 89, 329 <336 f.>). Gegebenenfalls muß sich das vorlegende Gericht auch mit den Gründen auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsverfahren für den Erlaß einer bestimmten gesetzlichen Regelung maßgeblich waren (vgl. BVerfGE 78, 201 <204>; 92, 277 <312>).
2. Diesen Anforderungen wird der Vorlagebeschluß nicht gerecht. Dabei kann es offen bleiben, ob das Sozialgericht die Entscheidungserheblichkeit des § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG für den gesamten Rechtsstreit hinreichend dargetan hat. Denn es hat sich jedenfalls bei seinen Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift mit naheliegenden Gesichtspunkten nicht befaßt.
a) Die Begründung des Vorlagebeschlusses läßt eine hinreichende Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 14 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG vermissen. Der Vorlagebeschluß geht nicht darauf ein, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sozialrechtliche Ansprüche nur dann den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG genießen, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Betroffenen beruhen (vgl. BVerfGE 53, 257 <290 f.>; 97, 271 <284>). Ferner bleibt unerörtert, daß das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rückwirkenden Regelungen nicht ausnahmslos entgegensteht. Vielmehr sind selbst Regelungen mit echter Rückwirkung zulässig, wenn die ursprüngliche Rechtslage unklar und verworren oder lückenhaft war (vgl. BVerfGE 30, 367 <388>; 88, 384 <404>). Dies gilt ferner dann, wenn der Gesetzgeber eine nichtige Bestimmung rückwirkend durch eine rechtlich nicht zu beanstandende Norm ersetzt (vgl. BVerfGE 7, 89 <94>; 13, 261 <272>).
b) Bei der Frage der Vereinbarkeit der zur Prüfung gestellten Bestimmung mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG befaßt sich der Vorlagebeschluß zwar mit der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts, in den noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Familien zu beheben (vgl. BVerfGE 82, 60 <97>). Das vorlegende Gericht setzt sich aber nicht mit der Tragweite dieses Regelungsauftrags und mit den vom Gesetzgeber hierzu angestellten Überlegungen auseinander.
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem genannten Kindergeldbeschluß erkennbar an die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG angeknüpft, die für den hier vorliegenden Fall der Unvereinbarkeitserklärung grundsätzlich analoge Anwendung findet (vgl. BVerfGE 37, 217 <262 f.>; 81, 363 <384>; stRspr). Danach ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die Wiederaufnahme aller auf der Grundlage einer verfassungswidrigen Norm bestandskräftig abgeschlossenen Fälle anzuordnen. Vielmehr kann er aus Gründen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit bestimmen, daß in der Vergangenheit abgeschlossene und mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare Entscheidungen unberührt bleiben. Der Gesetzgeber muß lediglich für die noch schwebenden und alle künftigen Fälle eine verfassungsmäßige Regelung treffen (vgl. BVerfGE 20, 230 <235 f.>; 97, 35 <48>).
Wie vorzugehen ist, wenn ein Verfahren in der Vergangenheit zwar nicht förmlich beendet, aber formlos eingestellt wurde, ist in § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht ausdrücklich geregelt. Auch das Bundesverfassungsgericht ist in dem erwähnten Beschluß auf die Frage nicht näher eingegangen, welche Folgen es für die nachträgliche Anhebung des Kindergeldanspruches hat, wenn es nur deswegen zu keiner förmlichen Minderungsentscheidung gekommen ist, weil der Kindergeldberechtigte nur den Sockelbetrag beantragt und die für eine Überprüfung des Erhöhungsanspruchs maßgeblichen Steuerbescheide nicht in angemessener Zeit vorgelegt hat.
Der Gesetzgeber hat diese Regelungslücke dadurch geschlossen, daß er die Fälle der faktischen Einstellung des Verfahrens den Fällen des förmlichen Abschlusses gleichgestellt hat. Wer in Kenntnis der maßgeblichen Einkommensteuerfestsetzung nur den kindergeldrechtlichen Sockelbetrag verlangt habe, müsse nicht so gestellt werden wie Kindergeldberechtigte, die eine gegen sie erlassene Minderungsentscheidung mit den zulässigen Rechtsbehelfen angegriffen hätten. Dasselbe gelte für Berechtigte, die zunächst nur den Sockelbetrag beantragt und nicht innerhalb eines halben Jahres nach der maßgeblichen Steuerfestsetzung eine Kindergelderhöhung verlangt hätten (vgl. BTDrucks 12/219, S. 42).
Mit diesen Motiven des historischen Gesetzgebers setzt sich die Richtervorlage nicht auseinander. Sie befaßt sich nicht mit der Frage, ob die in § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG getroffene Gleichstellung der formlos eingestellten und der förmlich beendeten Verfahren mit der vom Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage des § 79 Abs. 2 BVerfGG vorgenommenen Interessenabwägung in Einklang steht. Sie geht auch nicht näher darauf ein, ob durch die Regelung des § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG eine sachgerechte Gleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte herbeigeführt wird, wie dies in Rechtsprechung und Literatur angenommen wird (vgl. BSG vom 13. August 1996, 10 BKG 10/96; Wickenhagen/Krebs, Kindergeldgesetze, Stand 1992, § 44 e BKGG Rn. 4, 7). Schließlich prüft der Vorlagebeschluß nicht, ob die Regelung des § 44 e Abs. 1 Satz 3 BKGG Parallelen in anderen Übergangsregelungen findet. So hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer Entscheidung zur Berücksichtigung des familiären Existenzminimums bei der Beamtenbesoldung ausgeführt, daß der Beamte nicht erwarten könne, aus Anlaß einer verfassungsrechtlich gebotenen Besoldungskorrektur gewissermaßen ohne eigenes Zutun nachträglich in den Genuß der Befriedigung eines womöglich Jahre zurückliegenden Unterhaltsbedarfs zu kommen, den er selbst gegenüber seinem Dienstherrn zeitnah nicht geltend gemacht habe (vgl. BVerfGE 81, 363 <385>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier | Grimm | Hömig |