BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1872/03 -
In dem Verfahren über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn N ...,
Zülpicher Straße 83, 50937 Köln -
gegen a) | den Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 26. September 2003 - Ss 377/03 -, |
b) | das Urteil des Landgerichts Köln vom 11. Juni 2003 - 153 - 89/03 - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio und
Landau
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Dezember 2006 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>); sie ist unbegründet.
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen Fall der Verwerfung der Berufung wegen unentschuldigten Ausbleibens des Beschwerdeführers gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO trotz Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Strafverteidigers.
Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer in seiner Anwesenheit wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 15 Euro. Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil Berufung ein. In der Berufungshauptverhandlung ist er nicht erschienen, weil gegen ihn in einer anderen Sache ein Haftbefehl existierte. Das Landgericht verwarf die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO. Es führte aus, der Beschwerdeführer sei im Termin zur Hauptverhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen und auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden. Hiergegen hat der Beschwerdeführer Revision eingelegt und nähere Ausführungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gemacht. Die Generalstaatsanwaltschaft hielt die Revision für unbegründet. Die in ihr genannten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gäben zu einer anderen Beurteilung keinen Anlass. Auch die Sachrüge greife nicht, weil sie in den Fällen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nur zur Überprüfung der unbedenklich vorliegenden Verfahrensvoraussetzungen und des Nichtbestehens von Verfahrenshindernissen – für die keine Anhaltspunkte vorlägen – führe. Das Oberlandesgericht verwarf die Revision als unbegründet.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten.
1. Der Beschwerdeführer rügt im Kern einen Verstoß gegen sein Recht auf effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Eine Verletzung dieses Grundrechts liegt – auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Buchstabe c EMRK - nicht vor.
a) aa) Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren (vgl. BVerfGE 26, 66 <71>; 38, 105 <111>; 40, 95 <99>; 65, 171 <174>; 66, 313 <318>; 77, 65 <76>; 86, 288 <317 f.>). Das Verfassungsgebot rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung ist nicht nur Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, sondern auch Leitlinie für den das Strafverfahren im Rahmen der von der Strafprozessordnung vorgegebenen Regeln gestaltenden Richter, der dabei auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen muss (vgl. BVerfGE 64, 135 <146>; 92, 277 <326 f.>). Gerade der Strafprozess mit seinen möglichen weit reichenden Folgen für den Beschuldigten darf nicht auf eine Weise geführt werden, dass dieser zum bloßen Objekt des Verfahrens wird. Der Beschuldigte muss im Rahmen der von der Strafprozessordnung aufgestellten Regeln auch praktisch die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung seiner Rechte aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 26, 66 <71>; 57, 250 <274 f.>; 63, 332 <337>; 64, 135 <145>; 65, 171 <174>). Eine besondere Ausprägung des verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs auf ein faires Verfahren ist dabei das der "Waffengleichheit" dienende Recht eines Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt als gewähltem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. BVerfGE 34, 293 <302>; 38, 105 <111>; 66, 313 <319>; 68, 237 <255 f.>; 110, 226 <253>).
bb) Das Recht auf ein faires Verfahren enthält keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote, sondern bedarf der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, zwischen möglichen Alternativen bei der normativen Konkretisierung von Verfassungsgrundsätzen zu wählen. Erst wenn sich ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Prinzip konkrete Folgerungen für die Verfahrensgestaltung gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250 <276>; 70, 297 <309>; 86, 288 <317 f.>).
Hier ist für die Regelung und Anwendung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO im Verhältnis zu den Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zum einen das Rechtsmittelsystem der Strafprozessordnung in die Betrachtung einzubeziehen (1). Zum anderen ist zu beachten, dass das Recht auf effektive Verteidigung nicht isoliert im Gefüge der Prinzipien und Gewährleistungen der Strafprozessordnung und des Grundgesetzes – wie des Rechts auf rechtliches Gehör und des Unmittelbarkeitsgrundsatzes – steht (2).
(1) Mit der Berufung wird ein vollständiges Rechtsmittel im Hinblick auf Sach- und Rechtsfragen gewährt; es wird ein neues Verfahren durchgeführt (vgl. § 328 Abs. 1 StPO). Das Berufungsgericht hat nicht die Aufgabe, Fehler des erstinstanzlichen Gerichts zu finden und zu beanstanden; es führt vielmehr selbständig eine Hauptverhandlung durch und entscheidet in eigener Verantwortung auf Grund der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Die das Verfahren in der Hauptverhandlung beherrschenden Prinzipien der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit und der Unmittelbarkeit gelten grundsätzlich auch vor dem Berufungsgericht (vgl. Ruß, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 312 Rn. 1). Der Gesetzgeber hat sich entschieden, ein Abwesenheitsverfahren auch für die Berufungsinstanz grundsätzlich nicht vorzusehen. Im Verfahren nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO findet daher keine Verhandlung zur Sache statt (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 11. Dezember 1998 – Ss 528/98 -, NStZ-RR 1999, S. 112; OLG Oldenburg, Beschluss vom 20. Oktober 1998 – Ss 397/98 -, NStZ 1999, S. 156; BayObLG, Beschluss vom 25. November 1999 – 4 St RR 232/99 -, NStZ-RR 2000, S. 307 <308>). Vielmehr wird das erstinstanzliche, unter Anwesenheit des Angeklagten zu Stande gekommene Urteil aufrechterhalten.
(2) Das aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abgeleitete Recht auf effektive Verteidigung steht nicht unvermittelt neben den weiteren Gewährleistungen des Grundgesetzes und der Strafprozessordnung und kann nicht zu deren Lasten einseitig zur Geltung gebracht werden. Zu berücksichtigen ist nämlich auch, dass die durch § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO – neben dem verfahrensökonomischen Argument, dass es der Angeklagte nicht durch sein Nichterscheinen in der Hand haben soll, das Verfahren gegen sich zu verzögern (vgl. Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: 1. Januar 2003, § 329 Rn. 1, 77) – angestrebte persönliche Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung einerseits ein Recht, andererseits aber zugleich auch eine Pflicht des Angeklagten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 1975 - 1 StR 107/74 -, BGHSt 26, 84 <90>). Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Anwesenheit des Angeklagten stellen diesen als selbstverantwortlichen Menschen mit eigenen Verteidigungsrechten in den Mittelpunkt der Hauptverhandlung. Sie sind auf dem Rechtsgedanken aufgebaut, dass das Gericht seiner Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und zu einer gerechten Zumessung der Rechtsfolgen nur dann genügt, wenn es den Angeklagten vor sich sieht und ihn mit seiner Verteidigung hört. Damit wird Art. 103 Abs. 1 GG und dem darin enthaltenen Recht auf Selbstbehauptung in der bestmöglichen Form genügt. Auch die Menschenrechtskonventionen erfassen mit dem Verteidigungsrecht das Recht auf Anwesenheit: Art. 14 Abs. 3 Buchstabe d IPBPR sieht es ausdrücklich vor; für die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte folgt es aus dem Recht, sich selbst zu verteidigen (vgl. Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: 1. April 1997, § 230 Rn. 1). Die Anwesenheit des Angeklagten als ein den Strafprozess beherrschender Grundsatz dient auch dazu, dem Angeklagten die Möglichkeit allseitiger und uneingeschränkter Verteidigung zu sichern (vgl. BGH, Urteil vom 2. Oktober 1952 – 3 StR 83/52 -, BGHSt 3, 187 <190 f.>).
Die Anwesenheitspflicht soll aber auch der Wahrheitsfindung dienen, wie die Vorbehalte in §§ 231 Abs. 2, 231 a Abs. 1 StPO bestätigen. Schon die Möglichkeit eines persönlichen Eindrucks vom Angeklagten - seines Auftretens und seiner Einlassung - kann der Urteilsfindung des Gerichts dienlich sein, selbst in Fällen, in denen der Angeklagte schweigt und jede aktive Mitwirkung verweigert (vgl. BGH, a.a.O.). Aus der Zielsetzung des § 230 Abs. 1 StPO folgt, dass "anwesend" nur ein Angeklagter ist, der das Geschehen der Hauptverhandlung selbst in allen Einzelheiten sicher wahrnehmen und auf den Gang der Hauptverhandlung durch Fragen, Anträge und Erklärungen einwirken kann (vgl. Gollwitzer, a.a.O.). Zwar kennt die Strafprozessordnung Ausnahmen von dem Verbot, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln (vgl. §§ 231 Abs. 2, 231 a, 231 b, 231 c, 232, 233, 247, 329 Abs. 2, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2). Sie sind aber nur dort und nur insoweit am Platze, als sie das Gesetz ausdrücklich zulässt. Eine echte Hauptverhandlung gegen Abwesende im Sinne von § 276 StPO findet nicht statt.
Das Anwesenheitsrecht und die ihm korrespondierende Anwesenheitspflicht sind auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens (vgl. hierzu Rieß, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: 1. August 1998, Einl. Abschn. H, Rn. 50 ff.) bezogene Strukturprinzipien der Strafprozessordnung, die zum einen eine möglichst sichere Entscheidungsgrundlage herstellen sollen, zugleich aber auch eine Ausprägung des rechtlichen Gehörs des Angeklagten (Art. 103 Abs. 1 GG) darstellen. Wegen der nicht allein seiner Rechtsposition dienenden Funktion der Anwesenheit kann dem unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten auch keine Dispositionsbefugnis über die erwähnten Verfahrensprinzipien in dem Sinne zuerkannt werden, dass er seine Anwesenheit auf den Verteidiger gleichsam delegieren könnte, um Unmittelbarkeit und Mündlichkeit sowie rechtliches Gehör zu gewährleisten. Wie sich aus § 338 Nr. 5 StPO ergibt, handelt es sich um zwingende Vorschriften, auf die der Angeklagte nicht verzichten und von deren Einhaltung das Gericht nicht befreien kann (BGHSt 3, 187 <191>).
Dies belegt auch ein Blick auf das Recht der Beweisaufnahme: Hat der Verteidiger für den Angeklagten in einem während des Ermittlungsverfahrens abgegebenen Schriftsatz Angaben zum Tatgeschehen gemacht, so verstößt dessen Verlesung in der Hauptverhandlung regelmäßig gegen den in § 250 Satz 2 StPO niedergelegten Grundsatz der Unmittelbarkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2001 - 4 StR 506/01 -, NStZ 2002, S. 555). Die Verwertbarkeit von Erklärungen des Verteidigers in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten, der selbst keine Erklärung zur Sache abgibt, setzt voraus, dass der Angeklagte den Verteidiger zu dieser Erklärung ausdrücklich bevollmächtigt oder die Erklärung nachträglich genehmigt hat (BGH, Beschluss vom 28. Juni 2005 – 3 StR 176/05 -, NStZ 2005, S. 703 f.).
Selbst für die sich praeter legem entwickelnden Absprachen im Strafverfahren, die in erster Linie eine Vereinbarung zwischen den professionellen Verfahrensbeteiligten (Richter, Staatsanwalt und Verteidiger) darstellen, hat die Rechtsprechung stets daran festgehalten, dass der Angeklagte an dem Aushandlungsprozess zu beteiligen ist. Ohne einen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten soll das Gericht auch hier nicht über Tatbestand und Rechtsfolgen entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 28. August 1997 – 4 StR 240/97 -, BGHSt 43, 195 <206>; Beschluss des Großen Senats vom 3. März 2005 – GSSt 1/04 -, NJW 2005, S. 1440 <1441 f.>).
(3) Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO angesichts der auch in den Prozessprinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens zum Ausdruck kommenden Grundsatzentscheidung gegen ein Abwesenheitsverfahren das Recht des Beschuldigten, über die Art und Weise der Ausübung seines rechtlichen Gehörs und seiner Rechte aus Art. 20 Abs. 3 GG (Recht auf Verteidigerbeistand) zu bestimmen, jedenfalls für den Fall des unentschuldigten Fernbleibens in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgt unter Berücksichtigung der Strukturprinzipien des deutschen Strafprozesses nicht, dass der Gesetzgeber und der die Strafprozessordnung anwendende Richter gehalten wären, für die hier zu beurteilende Konstellation eine Vertretung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten durch seinen Verteidiger vorzusehen oder zuzulassen.
b) Zur Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Die Konvention überlässt es zwar den einzelnen Staaten als Vertragsparteien, in welcher Weise sie dieser Pflicht genügen (BVerfGE 111, 307 <316>). Nach Art. 1 EMRK beanspruchen die Vorschriften der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte aber in jedem Fall innerstaatliche Geltung. Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einschlägig, so sind die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. BVerfGE 111, 307 <323 f.>).
aa) Art. 6 Abs. 3 EMRK gewährleistet unter anderem das Recht jeder angeklagten Person, sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen (Buchstabe c). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fasst die Erfordernisse des Art. 6 Abs. 3 EMRK als besondere Aspekte des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf und prüft entsprechende Beschwerden jeweils unter dem Gesichtspunkt beider Bestimmungen zusammengenommen (vgl. EGMR, Urteil vom 12. Februar 1985 – Nr. 7A/1983/ 63/97 - Colozza/Italien, EuGRZ 1985, S. 631 <634>; Urteil vom 12. Oktober 1992 – Nr. 80/1991/332/405 – T./Italien, EuGRZ 1992, S. 541).
bb) Für die Regelung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO – Verwerfung der Berufung bei unentschuldigtem Ausbleiben des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache auch bei Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Strafverteidigers - existiert kein Präzedenzfall des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem entschieden worden wäre, dass ein Konventionsverstoß vorliegt, wenn sich der ausgebliebene Angeklagte nicht durch seinen Strafverteidiger in seiner Verteidigung vertreten lassen kann.
Für andere Rechtsordnungen, auf die sich die Geltung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte erstreckt, sind jedoch Entscheidungen ergangen, die die Konstellation des Ausbleibens eines Angeklagten bei Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Rechtsanwalts in der Hauptverhandlung zum Gegenstand hatten (vgl. Entscheidung Poitrimol/Frankreich, Urteil vom 23. November 1993 – Nr. 39/1992/384/462 -, ÖJZ 1994, S. 467 ff.; Entscheidung Lala/Niederlande, Urteil vom 22. September 1994 - Nr. 25/1993/420/499 -, ÖJZ 1995, S. 196 ff., in den Gründen gleichlautend mit der Entscheidung Pelladoah/ Niederlande, Urteil vom 22. September 1994 - Nr. 27/1993/422/501 -; Entscheidung van Geyseghem/Belgien, Große Kammer, Urteil vom 21. Januar 1999 - 26103/95 -, NJW 1999, S. 2353 f.; Entscheidung Krombach/Frankreich, Dritte Sektion, Urteil vom 13. Februar 2001 – 29731/96 -, NJW 2001, S. 2387 ff. mit Anm. Gundel, NJW 2001, S. 2380 ff., Meyer-Mews, NJW 2002, S. 1928 f.).
Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK gewährleistet als Mindestrecht des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten. Dieses für die deutsche Rechtsordnung bereits aus Art. 1 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG folgende Recht umfasst, dass es dem Beschuldigten möglich sein muss, auf das Verfahren einzuwirken, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen, entlastende Umstände vorzutragen und deren Berücksichtigung zu erreichen. Hieraus leitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ab, auch wenn es nicht absolut gelte, zähle doch das Recht eines jeden Angeklagten, wirksam von einem Anwalt verteidigt zu werden - eventuell von einem Pflichtverteidiger -, zu den Grundlagen eines fairen Verfahrens. Ein Angeklagter verliere dieses Recht nicht allein deshalb, weil er zu der Verhandlung nicht erscheint. Wenngleich der Gesetzgeber die Möglichkeit haben müsse, ungerechtfertigtem Fernbleiben entgegenzutreten, dürfe er das Ausbleiben des Angeklagten nicht dadurch ahnden, dass er das Recht auf Beistand eines Verteidigers einschränke (zuletzt EGMR, Dritte Sektion, Urteil vom 13. Februar 2001 - 29731/96 - Krombach/Frankreich, a.a.O., S. 2391).
cc) Es kann dahinstehen, ob die Grundsätze dieser Rechtsprechung wegen der Verschiedenheit der zu Grunde liegenden Sachverhalte und Rechtsordnungen auf den hier zu entscheidenden Fall vollständig übertragbar sind. In einigen Fällen lagen vorausgegangene Abwesenheitsurteile zu Grunde; in anderen konnten die Beschwerdeführer rechtliche Argumente nicht zu Gehör bringen, die im deutschen Strafprozess grundsätzlich von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu den Gewährleistungen in Konflikt gerät, zumal die Rechte aus Art. 6 EMRK in Abhängigkeit von den Verfahrensumständen und hierbei insbesondere in Abhängigkeit von einem etwaigen Heilungsbedarf und von der speziellen nationalen Ausgestaltung des Rechtsmittelverfahrens selbst garantiert werden (EGMR, Urteil vom 26. Mai 1988 - Nr. 10563/83 – Ekbatani/Schweden, Ziff. 24, 27).
(1) § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO betrifft allein Fälle des unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung. Durch sein Prozessverhalten hat es der Angeklagte in der Hand, seine Rechte in der zweiten Tatsacheninstanz ein weiteres Mal wahrzunehmen. In seiner Disposition darüber, das Rechtsmittel der Berufung wirksam wahrzunehmen, wird er als Prozesssubjekt anerkannt. Es kann keine Rede davon sein, dass der Angeklagte bei einem Ausbleiben gleichsam bestraft werde. Dass über seine Sache nicht erneut verhandelt wird, ist Folge seiner eigenen Entscheidung. Bleibt er der Berufungsverhandlung ohne hinreichenden Grund fern, bedeutet dies – wenn, wie im Regelfall, eine Hauptverhandlung in seiner Anwesenheit vorausgegangen ist – keinen Verstoß gegen die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK. Liegt ein Haftbefehl in anderer Sache vor, ist es Sache des Angeklagten, diesen Konflikt so aufzulösen, wie es ihm günstig erscheint. Es ist nicht geboten, ihm diese Entscheidung unter Verstoß gegen Strukturprinzipien der Strafprozessordnung dadurch abzunehmen, dass sich der Angeklagte in der von ihm herbeigeführten zweiten Tatsacheninstanz durch seinen Verteidiger vertreten lassen könnte.
(2) Dass der Verteidiger in einer solchen Situation eines Verzichts des Angeklagten bzw. einer Verwirkung des Rechtsmittels eine Verhandlung nicht als Vertreter für den ausgebliebenen Angeklagten verlangen kann, bedeutet auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit. Eine Verhandlung zur Sache, in der dieser Grundsatz wirksam werden müsste, findet im Verfahren nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht statt.
(3) Der Beistand des Verteidigers im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK wird dem Angeklagten durch die Regelung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorenthalten. Der Verteidiger kann für den Angeklagten geltend machen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschrift nicht gegeben seien. Die Berücksichtigung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Grundsätze gibt unter Beachtung der durch die Strafprozessordnung vorgegebenen Prozessstruktur und des in ihr angelegten Rechtsmittelsystems keine Veranlassung, ein Abwesenheitsverfahren gleichsam durch die Hintertür einzuführen. Angesichts der Bedeutung, die die Anwesenheit des Angeklagten vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozess hat, ist eine Vertretung des Angeklagten zur Ermöglichung einer Verhandlung zur Sache von Verfassungs wegen nicht geboten.
(4) Nach § 329 Abs. 4 StPO kann als Alternative zur Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache auch die Vorführung oder die Verhaftung des Angeklagten angeordnet werden. Dies kann sich als milderes Mittel gegenüber dem Verlust des Rechtsmittels erweisen. Allerdings ist auch hier zu berücksichtigen, dass die Durchführung der Berufungshauptverhandlung im Interesse des Angeklagten liegt, der sein Recht verfolgt. Staatliche Zwangsmaßnahmen, wie Vorführung und Verhaftung, sind keine geeigneten Mittel, wenn es darum geht, das eigene Interesse des Angeklagten durchzusetzen; dies erst recht, wenn – wie hier - keinerlei Hinweise auf seine Bereitschaft vorliegen, zur Berufungshauptverhandlung zu erscheinen.
(5) Dass nach § 329 Abs. 2 StPO unter den Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 StPO auch ohne den Angeklagten verhandelt werden kann, bedeutet ebenfalls im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine Einschränkung des Rechts auf effektive Verteidigung, weil der Angeklagte sich in diesem Fall stets durch einen bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen kann. Es handelt sich um einen gesetzlich vorgesehenen Fall der Vertretung des Angeklagten (§§ 332, 234 StPO; vgl. hierzu Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Stand: 1. Januar 2003, § 329 Rn. 46).
c) Das Recht des Beschwerdeführers auf effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet es – auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Buchstabe c EMRK – nicht, eine Vertretung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten im Verfahren nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zuzulassen. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts, das die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat, verletzen den Beschwerdeführer mithin nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren.
2. Nach alledem ist auch – ungeachtet der Frage, ob die entsprechende Rüge im Sinne der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG hinreichend begründet ist - ein Verstoß gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht ersichtlich.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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