Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Verlautbarung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts

Pressemitteilung Nr. 39/1993 vom 12. Oktober 1993

Urteil vom 12. Oktober 1993 - 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92

Das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - hat über fünf Verfassungsbeschwerden entschieden, die sich gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union und gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes richteten, mit dem die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht) geschaffen werden sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat nur eine der Verfassungsbeschwerden als zulässig beurteilt und insoweit nur geprüft, ob der Unions-Vertrag mit Art. 38 GG zu vereinbaren sei. Art. 38 GG gewährleistet den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl des Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen. Diese Verbürgung erstrecke sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts: Gewährleistet werde auch das Recht, durch die Wahl an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen. Für die europäische Integration schließe Art. 38 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es das Grundgesetz für unantastbar erkläre, verletzt werde.

Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht den Unions-Vertrag für vereinbar mit dem demokratischen Prinzip erklärt, dabei aber bestimmte Voraussetzungen für die Europäische Union festgehalten und bestimmte Anforderungen an ihre demokratische Legitimation hervorgehoben. Das Demokratieprinzip hindere die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer - supranational organisierten - zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft sei aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert sei. Da der Unions-Vertrag einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas begründe, jedoch keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat, seien es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben durch die Europäische Union über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren hätten. Damit seien der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Dem Deutschen Bundestag müßten Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.

In der gegenwärtigen Phase der Entwicklung komme der Legitimation an das Europäische Parlament eine stützende Funktion zu, die sich verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gewählt würde und sein Einfluß auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wüchse. Entscheidend sei, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut würden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibe.

Art. 38 GG werde auch verletzt, wenn das Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der Europäischen Gemeinschaften öffne, die zur Wahrnehmung übertragenen Hoheitsrechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlege. Stehe nicht fest, in welchem Umfang und Ausmaß der deutsche Gesetzgeber der Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten zugestimmt habe, so käme das einer Generalermächtigung gleich und wäre damit eine Entäußerung von Hoheitsrechten, gegen die Art. 38 GG schütze.

Der Unions-Vertrag bestimme jedoch die Aufgaben der Europäischen Union und der ihr zugehörigen Gemeinschaften in einer hinreichend voraussehbaren Weise. Der Vertrag folge dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, erlaube also ein Tätigwerden der Union ausschließlich auf der Grundlage ausdrücklicher vertraglicher Ermächtigung. Der Vertrag ermächtige die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanzmittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachte. Darüber hinaus setze das Subsidiaritätsprinzip der Kompetenzwahrnehmung eine Schranke. Die Bundesrepublik Deutschland unterwerfe sich insbesondere mit der Ratifikation des Unions-Vertrages nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren "Automatismus" zu einer Währungsunion; der Vertrag eröffne den Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhänge. Die Inanspruchnahme weiterer Aufgaben und Befugnisse durch Europäische Union und Europäische Gemeinschaften seien von Vertragsergänzungen und Vertragsänderungen abhängig gemacht und daher der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente vorbehalten. Insgesamt sei die Besorgnis des Beschwerdeführers, die Europäische Gemeinschaft werde aufgrund ihrer weitgesteckten Ziele ohne erneute parlamentarische Rechtsanwendungsbefehle sich zu einer politischen Union mit nicht vorausbestimmbaren Hoheitsrechten entwickeln können, nicht begründet.

Auch seien die vertraglich eingeräumten Aufgaben und Befugnisse und die dort geregelte Form der Willensbildung in der Europäischen Union und in den Organen der Europäischen Gemeinschaften nach Umfang und Verselbständigung nicht so ausgestaltet, daß die Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeiten des Deutschen Bundestages in einer mit dem unantastbaren Demokratieprinzip unvereinbaren Weise entleert werde.

Das Erfordernis einer hinreichend bestimmten Regelung der den europäischen Organen eingeräumten Hoheitsbefugnisse bedeutet zugleich, daß spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt seien. Wenn etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhabten oder fortbildeten, die von dem Vertrag, so wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liege, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht prüfe daher, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich an die Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte hielten oder aus ihnen ausbrächen.

Auch Hoheitsakte der Europäischen Gemeinschaften beträfen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland und berührten damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben. Allerdings übe das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem "Kooperationsverhältnis" zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaft garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann.