Bundesverfassungsgericht

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Verlautbarung der Pressestelle des Bundesverfassungsgerichts

Pressemitteilung Nr. 29/1994 vom 12. Juli 1994

Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92, 2 BvE 5/93, 2 BvE 7/93, 2 BvE 8/93

Das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - hat im Organstreitverfahren entschieden, daß die Bundesrepublik Deutschland sich mit deutschen Streitkräften an einem Einsatz im Rahmen von Aktionen der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) und der Westeuropäischen Union (WEU) zur Umsetzung von Beschlüssen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UNO) beteiligen darf. Gleiches gelte für eine Beteiligung deutscher Streitkräfte an von den Vereinten Nationen aufgestellten Friedenstruppen. Allerdings verpflichte das Grundgesetz die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die - grundsätzlich vorherige - konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. Die Verfahren sind auf Antrag der SPD- und der F.D.P.-Fraktion eingeleitet worden.

Nach Art. 24 Abs. 2 GG kann sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen und dabei in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen. Das Bundesverfassungsgericht sieht in dieser Ermächtigung des Grundgesetzes auch die verfassungsrechtliche Grundlage für eine Übernahme der Aufgaben, die typischerweise mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System gegenseitiger kollektiver Sicherheit verbunden sind. Deshalb dürfen deutsche Soldaten im Rahmen von UN-Friedenstruppen eingesetzt werden, auch wenn diese das Mandat zur Wahrnehmung von Zwangsmaßnahmen haben. Damit sind die von den Antragstellern vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Beteiligung deutscher Soldaten an der Aktion der Vereinten Nationen in Somalia "UNOSOM H", an der Aktion von Seestreitkräften der NATO und der WEU in der Adria zur Überwachung eines von den Vereinten Nationen gegen die Föderative Republik Jugoslawien verhängten Embargos und an der Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbots im Luftraum von Bosnien-Herzegowina in AWACS-Flugzeugen zurückgewiesen. Deutsche Soldaten dürften auch in NATO-Verbände integriert werden, die im Rahmen einer Aktion der Vereinten Nationen eingesetzt werden. Dies sei von der Zustimmung des Gesetzgebers zum Beitritt zur NATO und zur Charta der Vereinten Nationen umfaßt.

Allerdings erkennt das Gericht nach eingehender Analyse der Aussagen des Grundgesetzes zur Stellung der Streitkräfte im Verfassungssystem eine Verpflichtung der Bundesregierung, für jeden Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. Diese Zustimmung müsse grundsätzlich vor dem Einsatz erteilt werden. Der Bundestag habe über Einsätze bewaffneter Streitkräfte mit einfacher Mehrheit zu beschließen. Liege ein solcher Parlamentsbeschluß vor, so falle die Entscheidung über die Modalitäten des Einsatzes, insbesondere über dessen Umfang und Dauer sowie über die notwendige Koordination in und mit Organen internationaler Organisationen in die Zuständigkeit der Regierung. Im Rahmen dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben sei es Sache des Gesetzgebers, die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten.

Wegen Stimmengleichheit konnte ein Verstoß gegen Art. 59 Abs. 2 GG nicht festgestellt werden. Die Antragsteller hatten geltend gemacht, daß der Einsatz von NATO-Verbänden unter der Autorität der Vereinten Nationen zu einem inhaltlichen Wandel des NATO-Vertrags führe. Dafür sei gemäß Art. 59 Abs. 2 GG die Zustimmung des Gesetzgebers erforderlich. Vier Senatsmitglieder, deren Auffassung die Entscheidung trägt, sind der Meinung, daß die NATO-Partner bei den angegriffenen Maßnahmen erkennbar nicht in dem Willen gehandelt hätten, den NATO-Vertrag bereits vertraglich um neue Aufgaben zu erweitern. Nach Auffassung der vier anderen Senatsmitglieder hat die Bundesregierung an einer dynamischen Erweiterung des NATO-Gründungsvertrags in einer Weise mitgewirkt, die die Mitwirkungsrechte des Bundestages zu unterlaufen droht. Dadurch seien Rechte des Bundestages unmittelbar gefährdet.

Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die seit langem umstrittene Zulässigkeit eines Einsatzes deutscher Soldaten aufgrund eines Mandats der Vereinten Nationen anerkannt, den konkreten Einsatz im Einzelfall aber von der Zustimmung des Deutschen Bundestages abhängig gemacht.

Die Richter Böckenforde und Kruis haben in einer abweichenden Meinung dargelegt, daß nach ihrer Auffassung der Antrag der F.D.P.-Fraktion als unzulässig hätte verworfen werden müssen.