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Zur Fortgeltung von DDR-Strafvorschriften

Pressemitteilung Nr. 21/1998 vom 4. März 1998

Beschluss vom 21. Dezember 1997
2 BvL 6/95

Der Zweite Senat des BVerfG hat einen Vorlagebeschluß des Landgerichts Erfurt (LG) für unzulässig erklärt. Gegenstand der Vorlage war die Frage, ob es mit dem GG vereinbar ist, daß die Strafvorschriften über den Vertrauensmißbrauch (§ 165 StGB/DDR) für bereits vor dem 1. Juli 1990 eingeleitete Strafverfahren in Kraft bleiben.

I.

1. § 165 StGB/DDR enthielt folgende Strafvorschrift:

"Vertrauensmißbrauch

(1) Wer eine ihm dauernd oder zeitweise übertragene Vertrauensstellung mißbraucht, indem er entgegen seinen Rechtspflichten Entscheidungen oder Maßnahmen trifft oder pflichtwidrig unterläßt oder durch Irreführung oder in anderer Weise Maßnahmen oder Entscheidungen bewirkt und dadurch vorsätzlich einen bedeutenden wirtschaftlichen Schaden verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Wer
1. durch die Tat einen besonders schweren wirtschaftlichen Schaden verursacht;
2. die Tat zusammen mit anderen ausführt, die sich unter Ausnutzung ihrer beruflichen Tätigkeit oder zur wiederholten Begehung zusammengeschlossen haben, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

(3) Ist die Tatbeteiligung nach Absatz 2 Ziffer 2 von untergeordneter Bedeutung, kann die Bestrafung nach Absatz 1 erfolgen.

(4) Der Versuch ist strafbar."

Dieser Tatbestand wurde durch das 6. Strafrechtsänderungsgesetz mit Wirkung vom 1. Juli 1990 mit der Maßgabe aufgehoben, daß er für bereits vor dem 1. Juli 1990 eingeleitete Strafverfahren in Kraft blieb.

Im Einigungsvertrag (EV) vom 31. August 1990 wurde diese eingeschränkte Fortgeltung bestätigt, soweit sie mit dem GG unter Berücksichtigung des EV sowie mit dem unmittelbar geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaften vereinbar ist.

2. Das LG setzte ein bei ihm anhängiges Strafverfahren wegen Vertrauensmißbrauchs aus und legte dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Frage vor, ob die Fortgeltung des § 165 StGB/DDR verfassungsgemäß sei. Nach Auffassung des LG handelt es sich insoweit um ein nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG unzulässiges Einzelfallgesetz, das zudem gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

II.

Der Zweite Senat hat entschieden, daß die Vorlage unzulässig ist. Das LG kann selbst entscheiden, ob die Fortgeltung mit dem GG unvereinbar und daher außer Kraft getreten ist.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß Art. 100 Abs. 1 GG nur für Gesetze gilt, die nach Inkrafttreten des GG verkündet worden sind. Art. 100 Abs. 1 GG soll die Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers wahren. Gesetze, die unter Herrschaft des GG erlassen worden sind, sollen bis zur allgemein verbindlichen Feststellung ihrer Nichtigkeit oder Unwirksamkeit durch das BVerfG befolgt werden; über ihre Gültigkeit soll es keine einander widersprechenden Gerichtsentscheidungen geben. Deshalb hat das GG dem BVerfG ein Verwerfungsmonopol eingeräumt. Für Gesetze, die nicht unter der Herrschaft des GG erlassen worden sind, kommt eine solche Rücksicht auf die Autorität des konstitutionellen Gesetzgebers nicht in Betracht.

Nach Sinn und Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG ist von diesen Grundsätzen auch für Gesetze der DDR auszugehen, die nach dem EV fortgelten sollen.

Zwar ist das Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland unter der Herr- schaft des GG verkündet worden. Der Gesetzgeber hat jedoch - u.a. - die Fortgeltung des § 165 StGB/DDR ausdrücklich nur unter der Voraussetzung angeordnet, daß er weder dem GG noch dem unmittelbar geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaften widerspricht. Der Rechtsanwendungsbefehl für die Bundesrepublik Deutschland steht mithin unter dem Vorbehalt einer nachträglichen Prüfung am Maßstabe des GG und des Europäischen Gemeinschaftsrechts.

Für diese Prüfung gilt Art. 100 Abs. 1 GG nicht; das LG kann über die Vorlagefrage selbst entscheiden.