Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit Durchsuchungen von Redaktionsräumen

Pressemitteilung Nr. 36/1998 vom 9. April 1998

Beschluss vom 24. März 1998
1 BvR 1935/96, 1 BvR 1946/96

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat auf mehrere Verfassungsbeschwerden Beschlüsse des Landgerichts Bremen (LG) aufgehoben und die Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Das LG hatte Beschwerden gegen amtsgerichtliche Durchsuchungsbeschlüsse, die sich u.a. auf Redaktionsräume erstreckten, sowie gegen einen Beschlagnahmebeschluß als unzulässig verworfen.

I.

Auf eine im Juni 1996 erstattete Anzeige des Präsidenten des Landesrechnungshofs Bremen leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen "Unbekannt" wegen des Verdachts der Verletzung eines Dienstgeheimnisses ein. Es bestand der Verdacht, daß ein vertraulicher Bericht des Landesrechnungshofs über Haushaltsüberschreitungen im Ressort des Senators für Bildung und Wissenschaft unbefugt an Medienvertreter weitergeleitet worden war. Auf der Grundlage dieses Berichts erschienen in zwei Tageszeitungen entsprechende Artikel. Außerdem konfrontierte eine Journalistin den Rechnungshofpräsidenten in einem Interview mit einer Kopie des Berichts.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht mehrere Durchsuchungsbeschlüsse, u.a. für die Redaktionsräume der Rundfunkanstalt und die der Zeitungen, und bestätigte nach Vollstreckung der Beschlüsse die Beschlagnahme einer in den Räumen der Rundfunkanstalt gefundenen Berichtskopie.

Beschwerden gegen diese amtsgerichtlichen Beschlüsse verwarf das LG im November 1996 als unzulässig, weil sich die gerichtlichen Anordnungen bereits erledigt hätten. Zwar ergäben sich erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Trotzdem könnten die Beschlüsse des Amtsgerichts nicht bereits als auf sachfremden Erwägungen beruhende, objektiv willkürliche Entscheidungen angesehen werden.

Hiergegen wendeten sich die von den Durchsuchungen Betroffenen mit ihren Verfassungsbeschwerden.

II.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidungen des LG als begründet angesehen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Der Zweite Senat des BVerfG hat mit Beschluß vom 30. April 1997 entschieden, daß Beschwerden gegen richterliche Durchsuchungsanordnungen in Strafverfahren nicht allein deshalb als unzulässig verworfen werden dürften, weil sie bereits vollzogen worden seien und sich die Maßnahmen mithin erledigt hätten (sog. prozessuale Überholung; s. in der Anlage beigefügte Pressemitteilung Nr. 52/97 vom 11. Juni 1997).

Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe, die ihrer Natur nach häufig vor möglicher gerichtlicher Überprüfung schon wieder beendet sind, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Eingriffs gerichtlich klären zu lassen. Zu den Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gehört die Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen aufgrund richterlicher Anordnung einschließlich der in diesem Rahmen erfolgenden Beschlagnahmeanordnungen. Bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen in Medienunternehmen fällt zusätzlich der Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit ins Gewicht.

Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben werden die Beschlüsse des LG nicht gerecht. Indem sie die Beschwerden schon wegen "prozessualer Überholung" als unzulässig verworfen haben, verletzen sie Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz) in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) und Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (Presse- und Rundfunkfreiheit).

In der Sache hat das LG bereits ausgeführt, daß erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen bestehen.

Karlsruhe, den 9. April 1998

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 36/98 vom 9. April 1998

Bundesverfassungsgericht
- Pressestelle -
Pressemitteilung
Nr. 52/97 vom 11. Juni 1997

Zur Frage der Zulässigkeit einer Beschwerde gegen richterliche Durchsuchungsanordnungen

Der Zweite Senat des BVerfG hat in vier Verfassungsbeschwerde-Verfahren entschieden, daß die Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung im Strafverfahren nicht allein deshalb als unzulässig verworfen werden darf, weil die Durchsuchung vollzogen wurde und die Maßnahme sich mithin erledigt hat (sog. prozessuale Überholung). Der Senat hat entsprechende landgerichtliche Beschlüsse aufgehoben und die Sachen jeweils zur erneuten Entscheidung an die Landgerichte (LG) zurückverwiesen.

I.

In vier strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe waren Wohnräume aufgrund richterlicher Anordnungen durchsucht worden. Beschwerden gegen diese Beschlüsse wurden von den Rechtsmittelgerichten (LG) jeweils als unzulässig verworfen. Zur Begründung hieß es im wesentlichen, die Beschwerden seien prozessual überholt, weil die Durchsuchungen bereits durchgeführt und etwaige sichergestellte Gegenstände zurückgegeben worden seien.

Hiergegen wendeten sich die Betroffenen mit ihren Verfassungsbeschwerden. Sie rügten insbesondere, es sei ihnen der durch Art. 19 Abs. 4 GG (Wortlaut siehe Anlage) verbürgte effektive Rechtsschutz nicht gewährt worden.

II.

Der Senat hat den Beschwerdeführern Recht gegeben und die landgerichtlichen Beschlüsse aufgehoben. Sie verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung, Wortlaut siehe Anlage). Die LG müssen die Sachen erneut entscheiden.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Ein Rechtsmittelgericht darf ein in der jeweiligen Rechtsordnung vorgesehenes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen. Es muß prüfen, ob im jeweiligen Einzelfall für das statthafte Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen, als ein gerichtliches Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzinteresse aber auch in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gegeben, in denen die direkte Belastung durch den Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen. Solche tiefgreifenden Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das GG - wie u.a. im Fall des Art. 13 Abs. 2 GG - dem Richter vorbehalten hat. Zu der Fallgruppe tiefgreifender Grundrechtseingriffe, die ihrer Natur nach häufig vor möglicher gerichtlicher Überprüfung schon wieder beendet sind, gehört die Wohnungsdurchsuchung aufgrund richterlicher Durchsuchungsanordnung. Ein schutzwürdiges Interesse des Betroffenen, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung gerichtlich feststellen zu lassen, wird in solchen Fällen nicht nur ausnahmsweise anzunehmen sein.

Die angegriffenen landgerichtlichen Beschlüsse genügen diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Entsprechend dem verfassungsrechtlichen Maßstab hätten die Beschwerdegerichte vielmehr in jedem Einzelfall von dem Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses ausgehen müssen.

Beschluß vom 30. April 1997 - 2 BvR 817/90 u.a.

III.

Der Zweite Senat des BVerfG weicht mit diesem Beschluß von seiner bisherigen Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit richterlicher Durchsuchungsmaßnahmen ab. Er hatte in seiner Entscheidung vom 11. Oktober 1978 (BVerfGE 49, 329ff.) die Auffassung vertreten, es sei verfassungsgemäß, wenn über eine Beschwerde nach Abschluß der Durchsuchung wegen sog. prozessualer Überholung - jedenfalls regelmäßig - in der Sache nicht mehr entschieden werde. Lediglich in Ausnahmefällen könnte ein Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme und damit ein nachwirkendes Bedürfnis für eine richterliche Überprüfung angenommen werden. An dieser Auffassung hält der Senat nicht mehr fest.

Karlsruhe, den 11. Juni 1997

Anlage zur Pressemitteilung vom 11. Juni 1997 Nr. 52/97

Art. 19 Abs. 4 GG

Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Art. 13 GG

(1) Die Wohnung ist unverletzlich.

(2) Durchsuchungen und Beschränkungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.

(3) ...