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Erste Entscheidung zur "Strafbarkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung" - hier: Erfolglose Verfassungsbeschwerde einer DDR-Richterin gegen strafgerichtliche Verurteilung

Pressemitteilung Nr. 41/1998 vom 22. April 1998

Beschluss vom 07. April 1998
2 BvR 2560/95

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde einer DDR-Richterin gegen ihre rechtskräftige Verurteilung wegen Rechtsbeugung nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der von der Beschwerdeführerin ebenfalls gestellte Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

I.

Die Beschwerdeführerin war Vorsitzende und einzige Berufsrichterin des für politische Strafsachen erstinstanzlich zuständigen Ia. Strafsenats des Stadtgerichts Berlin. In den Jahren 1978 bis 1986 wirkte sie als Vorsitzende u.a. an drei Verurteilungen wegen staatsfeindlicher Hetze, landesverräterischer Nachrichtenübermittlung und Agententätigkeit mit.

Es ging insoweit um folgende Sachverhalte:

  1. Verbreiten von Hetzschriften, namentlich der in der Bundesrepublik gedruckten Zeitschrift "Roter Morgen", im Zeitraum von Ende 1975 bis 1980 (Urteil von Juli 1982, Freiheitsstrafe von acht Jahren).
  2. Aufsuchen der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR und Übergabe der Kopie von Ausreiseanträgen; Weiterleitung eines die vergeblichen Ausreisebemühungen betreffenden Schreibens an das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Urteil von März 1983, Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten sowie zwei Jahren und vier Monaten).
  3. Beratung durch Ständige Vertretung über Ausreisemöglichkeiten; Aufsuchung des Ostberliner Büros des ZDF, um sich über eine mögliche Begründung des Ausreisebegehrens zu informieren; Kontaktaufnahme zur Stadt Dortmund wegen Erteilung einer Taxikonzession; weitere Kontaktaufnahme zur Ständigen Vertretung und Ausfüllen eines an das Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen gerichteten Fragebogens (Urteil von Mai 1983, Freiheitsstrafe von zwei Jahren).

U.a. wegen dieser Urteile wurde die Beschwerdeführerin im April 1994 vom Landgericht (LG) Berlin jeweils wegen Rechtsbeugung (§ 244 StGB/DDR) verurteilt. Unter Abänderung des LG-Urteils im übrigen bestätigte im Revisionsverfahren der BGH im September 1995 diesen Schuldspruch und verwies das Verfahren zur Straffestsetzung an das LG zurück. Diese ist zwischenzeitlich erfolgt. Die Beschwerdeführerin wurde rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, die sie derzeit verbüßt.

Zur Begründung seines Urteils hat der BGH u.a. folgendes ausgeführt:

Hinsichtlich des Urteils von Juli 1982 erscheine die verhängte Freiheitsstrafe als unerträglicher Willkürakt und offensichtlich schwere Menschenrechtsverletzung. Eine derart massive Freiheitsstrafe, die letztlich für ein bloßes Meinungsäußerungsdelikt verhängt werde, verstoße gegen das Verbot grausamer und übermäßig harter Strafen und entspreche nicht mehr sachlichen Erwägungen.

Hinsichtlich der Verurteilung wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung im März 1983 habe die Annahme eines Verbrechens nach § 99 StGB/DDR die Grenzen möglicher Gesetzesinterpretationen überschritten. Von einem Handeln "zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik" auszugehen, erscheine auch aus Sicht der DDR-Justiz nicht mehr nachvollziehbar.

Hinsichtlich der Verurteilung im Mai 1983 sei die herangezogene Strafbestimmung willkürlich überdehnt worden. Die Annahme, der Verfolgte habe gehandelt, "um die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schädigen", sei - auch bei Zugrundelegen von in der DDR herrschenden Rechtsvorstellungen - in diesem Fall nicht mehr nachvollziehbar. Die von § 100 StGB/DDR geforderte staatsfeindliche Motivation der Verbindungsaufnahme lasse sich dem festgestellten Sachverhalt offensichtlich nicht entnehmen.

Gegen das Urteil des LG von April 1994 und das des BGH von September 1995 erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde zum BVerfG und rügte die Verletzung verschiedener Grundrechte.

II.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Sie hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch ist sie zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt, weil die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ("Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.") ist durch die Auslegung und Anwendung des § 244 StGB/DDR nicht verletzt.

a) Es kann dahinstehen, ob und inwieweit einer zur Tatzeit praktizierten Interpretation eines Strafgesetzes im Rahmen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots Bedeutung zukommt. Art. 103 Abs. 2 GG ist jedenfalls nicht anwendbar, wenn die der Rechtsanwendung zugrundeliegende Staatspraxis durch Aufforderung zu schwerstem kriminellen Unrecht und seiner Begünstigung die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet; denn hierdurch setzt der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht.

Dies hat das BVerfG im Zusammenhang mit vorsätzlichen Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR entschieden (Beschluß vom 24. Oktober 1996; 2 BvR 1851/94 u.a.; Pressemitteilung Nr. 69/96 vom 12. November 1996). Für die Anwendung von Rechtsvorschriften durch Richter und Staatsanwälte der DDR kann nichts anderes gelten. Aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ergibt sich, daß zu den in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechten auch das Recht auf persönliche Freiheit und der Schutz vor grausamer und unmenschlicher Bestrafung gehören. Bei der Beugung des Rechts durch Richter und Staatsanwälte handelt es sich jedenfalls dann, wenn - wie hier - die Rechtsbeugungshandlung zu Freiheitsentzug führt, um schwerstes kriminelles Unrecht.

b) Bei den vom BGH entwickelten, der Verurteilung der Beschwerdeführerin zugrunde gelegten Fallgruppen der Rechtsbeugung (Überdehnung von Straftatbeständen, unerträgliches Mißverhältnis zwischen der verhängten Strafe und der abgeurteilten Tat) handelt es sich um solche unerträglichen Menschenrechtsverletzungen, für die sich ein daran beteiligter Richter der DDR nicht auf den strikten Schutz des Vertrauens durch Art. 103 Abs. 2 GG berufen kann.

Bei der Fallgruppe "Überdehnung von Straftatbeständen unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit" ist davon auszugehen, daß "offene" Rechtsbegriffe es im Bereich des politischen Strafrechts ermöglichen, Strafrecht als Mittel zur politischen Verfolgung einzusetzen. Dieser Gefahr muß durch ein Minimum an Restriktionsbemühungen bei der Auslegung dieser Rechtsbegriffe begegnet werden. Nur dann bleibt die Rechtsprechung noch an Menschenrechten orientiert. Liegt einer diesen Mindestanforderungen nicht genügenden Auslegung auch noch eine Vorschrift des politischen Strafrechts zugrunde, die extrem hohe Strafen vorsieht, werden Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet.

Bei der Fallgruppe "grob ungerechte Strafen" sieht der BGH die Voraussetzungen nur dann als erfüllt an, wenn sich die Bemessung der Strafe von dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz so deutlich entfernt, daß die Bestrafung in einer sich selbst einem politisch indoktrinierten Richter aufdrängenden Weise als Willkür und damit für das Gerechtigkeitsempfinden unerträglich erscheint. Angesichts der engen Beschränkung dieser Fallgruppe kann man auch für die von ihr erfaßten Verurteilungen von einer schwerwiegenden Mißachtung der Menschenrechte ausgehen.

2. Der Schuldspruch verletzt auch nicht den Schuldgrundsatz (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).

Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG das Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" hat Verfassungsrang; er findet seine Grundlage im Gebot der Achtung der Menschenwürde sowie in Art. 2 Abs. 1 GG und im Rechtsstaatsprinzip. Aus diesem Grundsatz folgt für die Strafgerichte das Gebot schuldangemessenen Strafens im Einzelfall.

In diesem Zusammenhang hat das BVerfG in seinem Beschluß vom 24. Oktober 1996 hinsichtlich der DDR-Grenzsoldaten darauf hingewiesen, daß sich dem durchschnittlichen Soldaten die richtige Grenze strafbaren Verhaltens nicht selbstverständlich zweifelsfrei erschließe. Es müsse insoweit näher dargelegt werden, weshalb der einzelne Soldat angesichts seiner Erziehung, der Indoktrination und der sonstigen Umstände in der Lage war, den Strafrechtsverstoß zweifelsfrei zu erkennen.

Diese Bedenken bestehen bei der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Feststellung des Rechtsbeugungsvorsatzes nicht. Sie ist rechtskundig. Die Rechtsanwendung war für sie als Berufsrichterin keine ungewöhnliche Aufgabenstellung. Für die Methodik der Auslegung von Rechtsvorschriften galten in der DDR keine Besonderheiten. Die Situation der Beschwerdeführerin ist mit der Lage des Grenzsoldaten, der die Vereinbarkeit eines ihm erteilten Befehls mit dem Strafrecht überprüfen sollte, nicht vergleichbar. Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der BGH angesichts der besonders hohen Anforderungen an den objektiven Rechtsbeugungstatbestand davon ausgeht, es erscheine von vornherein kaum vorstellbar, daß einem Berufsrichter die evidente Rechtswidrigkeit seiner Entscheidung in diesen Fällen verborgen geblieben sein könnte.