Bundesverfassungsgericht

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Zur Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung des Krankengeldes durch das Gesundheits-Reformgesetz von 1989

Pressemitteilung Nr. 52/1998 vom 14. Mai 1998

Beschluss vom 24. März 1998
1 BvL 6/92

Der Erste Senat des BVerfG hat auf die Vorlage des Bundessozialgerichts (BSG) folgendes beschlossen:

Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, solche Versicherten von der Einschränkung des Anspruchs auf Krankengeld in § 48 Abs. 2 SGB V auszunehmen, bei denen der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift eingetreten ist und die auf Dauer arbeitsunfähig sind.

I.

1. Mit dem am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Gesundheits-Reformgesetz (GRG) wurde der Weiterbezug von Krankengeld wegen derselben Krankheit gegenüber der alten Rechtslage erschwert. Die insoweit maßgebliche Vorschrift des § 48 Abs. 2 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) lautet:

"Für Versicherte, die im letzten Dreijahreszeitraum wegen derselben Krankheit für achtundsiebzig Wochen Krankengeld bezogen haben, besteht nach Beginn eines neuen Dreijahreszeitraums ein neuer Anspruch auf Krankengeld wegen derselben Krankheit, wenn sie bei Eintritt der erneuten Arbeitsunfähigkeit mit Anspruch auf Krankengeld versichert sind und in der Zwischenzeit mindestens sechs Monate

1. nicht wegen dieser Krankheit arbeitsunfähig waren und

2. erwerbstätig waren oder der Arbeitsvermittlung zur Verfügung standen."

Für Versicherte, die im letzten Dreijahreszeitraum wegen derselben Krankheit Krankengeld bezogen haben, besteht also nach Beginn eines weiteren Dreijahreszeitraums ein neuer Anspruch auf Krankengeld wegen derselben Krankheit u.a. nur dann, wenn sie in der Zwischenzeit mindestens sechs Monate erwerbsfähig waren oder der Arbeitsvermittlung zur Verfügung standen. Auf Dauer Arbeitsunfähige erhalten danach in den weiteren Blockfristen regelmäßig kein Krankengeld mehr, sondern werden auf Erwerbsunfähigkeitsrente verwiesen.

2. Ein 1938 geborener Mann ist seit 1976 dauernd arbeits- und erwerbsunfähig. Einen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat er mangels Erfüllung der Wartezeit nicht.

Die Krankenkasse gewährte ihm in der Vergangenheit auf der Grundlage des "alten" Rechts jeweils nach Beginn einer neuen Blockfrist Krankengeld für 78 Wochen. Nach Inkrafttreten des § 48 Abs. 2 SGB V teilte ihm die Krankenkasse mit, daß er in Zukunft keinen Anspruch mehr auf Krankengeld habe, weil er die Voraussetzungen der Neuregelung nicht erfülle. Auf die Klage des Mannes verurteilte das Sozialgericht die Krankenkasse, dem Kläger weiter Krankengeld zu gewähren. § 48 Abs. 2 SGB V dürfe auf solche Fälle nicht angewendet werden, in denen der Versicherte schon vor Inkrafttreten der Regelung dauernd arbeitsunfähig gewesen sei. Auf die Sprungrevision der Krankenkasse hat das BSG das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob

"... § 48 Abs. 2 ... (SGB V) ... mit Art. 14 Abs. 1 des ... (GG) insoweit vereinbar ist, als auch bei Versicherten, bei denen der Versicherungsfall vor seinem Inkrafttreten eingetreten ist und die auf Dauer arbeits- und erwerbsunfähig sind, ohne daß sie einen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Krankenversicherung haben, der Krankengeldanspruch nur unter den erschwerten Bedingungen des neuen Rechts wieder aufleben kann".

Nach Ansicht des BSG verstößt die vorgelegte Norm gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, weil sie in eine Rechtsposition eingreife, die in der Vergangenheit entstanden sei. Das Vertrauen der Betroffenen auf die Fortdauer der seit 1961 bestehenden Rechtslage sei schutzwürdig.

II.

Der Erste Senat hat die ihm vorgelegte Frage verneint. § 48 Abs. 2 SGB V ist mit dem GG auch insoweit vereinbar, als sich die erneute Gewährung von Krankengeld in einem nach dem 31. Dezember 1988 beginnenden weiteren Dreijahreszeitraum auch für solche Personen nach dieser Vorschrift bestimmt, bei denen der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des GRG eingetreten ist und die auf Dauer arbeitsunfähig sind.

  1. Es kann dahinstehen, ob der Anspruch auf Krankengeld dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG unterliegt. Selbst wenn dies zu bejahen wäre, hätte der Gesetzgeber mit § 48 Abs. 2 SGB V in zulässiger Weise in das Eigentumsrecht eingegriffen.

    a) Der Gesetzgeber konnte sich auf gewichtige Gründe des öffentlichen Interesses berufen.

    Das Lohnersatzrisiko von Personen, die auf nicht absehbare Zeit aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind, wird mit der Neuregelung der gesetzlichen Rentenversicherung zugewiesen. § 48 Abs. 2 SGB V führt damit den Krankengeldanspruch auf seinen ursprünglichen Zweck zurück, bei vorübergehender Arbeitsunfähigkeit den Lohnausfall auszugleichen. Damit beseitigt der Gesetzgeber zugleich den Anreiz, Krankengeld als eine rentenähnliche Dauerleistung zu beziehen. Der durch § 48 Abs. 2 SGB V erschwerte Zugang zum Krankengeld soll bewirken, daß die in ihrem bisherigen Beruf nicht mehr arbeitsfähigen Versicherten ihr verbliebenes "Restleistungsvermögen" einsetzen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Verfassungsrechtlich ist der Gesetzgeber nicht gehalten, die Lücke im Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung, die im Falle des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit vor der Erfüllung von Wartezeiten besteht, durch die lebenslange Zahlung von Krankengeld zu schließen.

    Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber aber auch den Anforderungen des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) für die Zukunft genügen. Nach dem bis Januar 1989 gültigen "alten" Recht konnten Arbeitsunfähige mit Rentenanwartschaft unabhängig von deren Höhe auf ihre Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verwiesen werden. Hingegen waren Arbeitsunfähige ohne Rentenanspruch berechtigt, wiederaufgelebtes Krankengeld in Höhe von 80% des letzten Nettogehalts zu beziehen. Das Krankengeld konnte mithin höher sein als die Erwerbsunfähigkeitsrente. In solchen Fällen stand der Krankenversicherte, der die rentenrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllte, besser als der Rentenversicherte, dessen Anspruch auf Krankengeld zur Vermeidung von Doppelleistungen ausgeschlossen war. Für diese Ungleichbehandlung war ein rechtfertigender Grund nicht ersichtlich. Der Versicherte, der dem Grunde nach Ansprüche sowohl in der Kranken- wie auch in der Rentenversicherung erworben hat, darf wirtschaftlich nicht schlechter stehen als derjenige, der nur als Mitglied der Krankenversicherung über einen Leistungsanspruch verfügt.

    b) § 48 Abs. 2 SGB V ist auch verhältnismäßig. Die Norm ist geeignet, die angestrebten Ziele zu erreichen und insbesondere die Aufgaben zwischen Kranken- und Rentenversicherung so zu verteilen, daß das Risiko dauernder Leistungsminderung in der Rentenversicherung, das Risiko einer vorübergehenden Leistungsunfähigkeit dagegen in der Krankenversicherung abgesichert ist. Ein gleich wirksames Mittel, das weniger weitgehend auf sozialversicherungsrechtliche Positionen eingewirkt hätte, ist nicht ersichtlich. In Wahrnehmung seiner Gestaltungsfreiheit durfte der Gesetzgeber dem öffentlichen Interesse an einer sachgerechten Bestimmung des Verhältnisses der Aufgaben von Krankenversicherung und Rentenversicherung und an der Herstellung eines dem Gleichheitssatz entsprechenden Rechtszustandes den Vorzug geben vor dem Interesse der Versicherten am unveränderten Fortbestand einer nach der bisherigen Rechtspraxis gewährten Leistung.

  2. Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich auch nicht gehalten, von der Anwendung des § 48 Abs. 2 SGB V diejenigen Versicherten auszunehmen, bei denen der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des GRG eingetreten war und die auf Dauer arbeitsunfähig sind.

    § 48 Abs. 2 SGB V bewirkt im Ergebnis, daß dem betroffenen Personenkreis, dem der Kläger des Ausgangsverfahrens zugehört, mit Wirkung für die Zukunft ein Krankengeldanspruch nicht mehr zusteht. Die dadurch vom Gesetzgeber herbeigeführte sogenannte unechte Rückwirkung genügt den grundgesetzlichen Anforderungen des Vertrauensschutzprinzips.

    a) Zwar endet die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf den Fortbestand einer über viele Jahre gewährten Rechtsposition regelmäßig erst dann, wenn der Gesetzgeber eine Änderung beschlossen hat. Andererseits mußte in den entsprechenden Fällen immer mit einer Änderung der Rechtspraxis durch den Gesetzgeber gerechnet werden, weil eine solche Leistung auf unbegrenzte Zeit nicht in das System der Krankenversicherung paßte. Dementsprechend war die dargestellte Rechtspraxis Gegenstand kritischer Äußerungen im Schrifttum.

    b) Der Gesetzgeber stand vor der Entscheidung, den Personenkreis, dem der Kläger des Ausgangsverfahrens angehört, entweder mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1989 im Ergebnis von der Gewährung des Krankengeldes auszuschließen oder eben auf Dauer den Krankengeldanspruch zu belassen. Es war verfassungsrechtlich in dieser Situation vertretbar, bei der Abwägung der in Frage stehenden Interessen sich dafür zu entscheiden, die mit der Neuregelung verfolgten Gemeinwohlbelange möglichst sofort und ohne Herausnahme bestimmter Personengruppen aus dem Anwendungsbereich des § 48 Abs. 2 SGB V zur Geltung zu bringen.

    c) Damit hat der Gesetzgeber auch die Gruppe der Versicherten nicht unzumutbar belastet, die in jungen Lebensjahren zu einem Zeitpunkt auf Dauer arbeitsunfähig wurden, zu dem sie die fünfjährige Wartezeit für die Erwerbsunfähigkeitsrente noch nicht erfüllten. Die erforderliche Wartezeit sichert eine Vorleistung des Versicherten vor Erwerb eines Dauerrechts und schützt damit die Versichertengemeinschaft vor finanzieller Überforderung. Wurde einem Versicherten eine rentenähnliche Dauerleistung ohne eine vergleichbare Vorleistung gewährt, so kann sich selbst ein durch Art. 14 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutzprinzip grundsätzlich vermittelter Bestandsschutz nicht gegenüber den gewichtigen öffentlichen Belangen durchsetzen, die der Gesetzgeber - wie im Falle des § 48 Abs. 2 SGB V - mit dem Ausschluß einer solchen Dauerleistung für die Zukunft verfolgt hat.