Bundesverfassungsgericht

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Ablehnung einer Anklageerhebung verstieß jedenfalls wegen unzureichender Sachverhaltsermittlung gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör

Pressemitteilung Nr. 54/1998 vom 19. Mai 1998

Beschluss vom 04. Mai 1998
2 BvR 1314/97

Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren einen Beschluß des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm in einem sog. Klageerzwingungsverfahren aufgehoben, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers zurückgewiesen worden war, die Erhebung der öffentlichen Klage (= Anklage) gegen einen Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt anzuordnen.

I.

Im Juni 1996 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Handels mit Betäubungsmitteln vorläufig festgenommen und in ein Krankenhaus verbracht. Da der Beschwerdeführer sog. "Kokain-Bubbles" (mit Kokain gefüllte fest verschweißte Plastikkügelchen) geschluckt hatte, ordnete der beschuldigte Polizeibeamte "körperliche Eingriffe" zur Sicherstellung der Beweismittel an. Nachdem ein Arzt mittels Magenspiegelung das Vorhandensein von "Bubbles" im Magen des Beschwerdeführers festgestellt hatte, wurde bei diesem eine Magenoperation ("Oberbauchmittellängsquerschnitt" und "quere Gastrotomie") durchgeführt; es wurden 14 "Kokain-Bubbles" sichergestellt.

Der Beschwerdeführer behauptete, die Ärzte hätten die Operation auf Anordnung des Polizeibeamten durchgeführt, und erstattete Strafanzeige gegen diesen wegen Körperverletzung im Amt. In dem darauf eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurde zunächst ein Vermerk des beschuldigten Polizeibeamten beigezogen, in dem es heißt, der Arzt habe entschieden, daß bei dem Beschwerdeführer eine Operation durchgeführt werden müsse, weil die Sicherung der Bubbles mittels Gastroskopie für den Beschwerdeführer zu gefährlich gewesen sei. Später ergänzte der Polizeibeamte nach telefonischer Rücksprache mit einem Staatsanwalt seine Angaben und ließ sich dahin ein, der Beschwerdeführer sei dem Krankenhaus mit der Maßgabe zugeführt worden, um die bestehende Lebensgefahr abzuwenden und die im Körper befindlichen Drogen als Beweismittel sicherzustellen. Dies sei den zuständigen Ärzten mitgeteilt worden. Diese hätten sich zur Operation entschlossen.

Die Staatsanwaltschaft ordnete an, den Arzt zu vernehmen, der die Magenspiegelung vorgenommen hatte. Dieser möge "eingehend" darlegen, aus welchen Gründen es erforderlich gewesen sei, bei dem Beschwerdeführer eine Operation durchzuführen. Darauf erklärte der Arzt, er habe die Operation nicht durchgeführt. Der Beschwerdeführer sei hierzu der chirurgischen Abteilung übergeben worden.

Von weiteren Vernehmungen nahm die Staatsanwaltschaft Abstand und stellte das Verfahren ein. Die hiergegen erhobene Beschwerde blieb erfolglos. Mit seinem weiteren Antrag an das OLG auf Klageerzwingung stellte der Beschwerdeführer im einzelnen unter Angabe von Beweismitteln eine Lebensgefahr in Abrede, wies darauf hin, daß das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen für Fälle "massiven Körperschmuggels" lediglich die Unterbringung der Beschuldigten zu stationärer Beobachtung angeordnet habe, und rügte schließlich, eine Sachaufklärung seitens der Ermittlungsbehörden sei nicht erfolgt. Weder das Personal des Krankenhauses noch die operierenden Ärzte noch weitere eingesetzte Hilfskräfte seien zu den Umständen und Geschehnissen befragt worden, die zur Operation geführt hätten. Das OLG verwarf den Antrag als unbegründet. Genügender Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage sei nicht gegeben. Selbst wenn der beschuldigte Polizeibeamte die Magenoperation angeordnet hätte, ohne daß diese Maßnahme objektiv medizinisch notwendig gewesen sei, sei sein Verhalten gerechtfertigt gewesen. Die Einlassung des Beschuldigten, er sei davon ausgegangen, daß die Bubbles für den Beschwerdeführer eine akute Lebensgefahr dargestellt hätten, sei nicht zu widerlegen. Selbst bei vorwerfbarer irriger Annahme einer Lebensgefahr käme allenfalls der Vorwurf einer fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB) in Betracht, die jedoch als Privatklagedelikt vom Klageerzwingungsverfahren ausgeschlossen sei.

Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde und rügte der Sache nach u.a. eine Verletzung seines Anspruches auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Wenn das OLG sein Vorbringen berücksichtigt hätte, wäre die Einlassung des Polizeibeamten als eine den wahren Sachverhalt vertuschende Schutzbehauptung entlarvt worden. Wäre es dem Polizeibeamten um die Abwendung einer Lebensgefahr gegangen, hätte er sich bei den Ärzten über den Zustand des Beschwerdeführers vergewissert. Solange die Ermittlungen nicht ergeben hätten, daß der Beschuldigte dies getan habe, könne ihm nicht die irrige Annahme einer Lebensgefahr zugute gehalten werden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der Beschluß des OLG verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

  1. Art. 103 Abs. 1 GG ist jedenfalls dann verletzt, wenn besondere Umstände deutlich machen, daß Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. So liegt es hier. Die Würdigung des OLG ist im Lichte der ersichtlich unzureichenden staatsanwaltlichen Ermittlungen nur zu erklären, wenn es das Vorbringen des Beschwerdeführers entweder nicht zur Kenntnis genommen oder doch nicht gewürdigt hat. Anderenfalls hätte es zumindest nahegelegen, daß das OLG entweder den vorzeitigen Abbruch der Ermittlungen beanstandet oder aber eigene Ermittlungen insbesondere dazu angestellt hätte, welche ärztlichen Erklärungen gegenüber dem Beschuldigten zu der von diesem behaupteten Lebensgefahr und den Möglichkeiten ihrer Verhinderung abgegeben wurden. Die Umstände, die zur Anordnung und Durchführung des operativen Eingriffs führten, sind allenfalls unzureichend aufgeklärt worden. Nachdem die schriftliche Aussage des Arztes unergiebig geblieben war, unterließ es die Staatsanwaltschaft, dem Arzt gezielt Fragen zu den Umständen der Operationsanordnung und zum Vorliegen einer Lebensgefahr vorzulegen, was außerordentlich nahegelegen hätte. Eine Vernehmung der an der Operation beteiligten Personen wurde ebensowenig veranlaßt, wie eine Ermittlung und Vernehmung der im Vorfeld der Operationsanordnung anwesenden Personen durchgeführt wurde. Es ist - insbesondere in Anbetracht der zu den Akten gelangten Krankenunterlagen, die keinerlei Anhaltspunkte für eine konkrete Lebensgefahr des Beschwerdeführers bieten - nicht ausgeschlossen, daß weitere Ermittlungen hinreichenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage gegeben hätten.
  2. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat den OLG-Beschluß aufgehoben und die Sache an einen anderen Senat des OLG zurückverwiesen. Das OLG hat damit - ggf. nach Durchführung weiterer Ermittlungen - erneut zu prüfen, ob hinreichender Anlaß für eine Anklageerhebung bestand.