Bundesverfassungsgericht

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Antrag des Abgeordneten Dr. Gysi auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abgelehnt

Pressemitteilung Nr. 57/1998 vom 28. Mai 1998

Beschluss vom 27. Mai 1998
2 BvE 2/98

Der Zweite Senat des BVerfG hat den Antrag des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im Zusammenhang mit seiner Überprüfung auf eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR abgelehnt.

I.

1. Der Bundestagsabgeordnete Dr. Gysi (= Antragsteller) wird auf der Grundlage des § 44b Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes (AbgG) seit Anfang 1995 auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit oder politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst der DDR (MfS) überprüft.

Gemäß dieser Vorschrift kann ein Bundestagsausschuß auch ohne Zustimmung eines Abgeordneten eine solche Überprüfung vornehmen, wenn konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht einer entsprechenden Tätigkeit eines Abgeordneten vorliegen. Weitere Einzelheiten und Kriterien des Überprüfungsverfahrens sind in Richtlinien und Absprachen festgelegt. Der Zweite Senat hat durch Beschluß vom 21. Mai 1996 dieses Überprüfungsverfahren als mit dem verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus vereinbar angesehen (s. in der Anlage beigefügte Pressemitteilung Nr. 39/96 vom 3. Juli 1996).

2. a) Am 8. Mai 1998 hat der 1. Ausschuß abschließend festgestellt, daß eine inoffizielle Tätigkeit Dr. Gysis für das MfS erwiesen sei. Diese Feststellung und ihre Begründung sollen als Bundestagsdrucksache veröffentlicht werden, sobald die Dr. Gysi bis zum 29. Mai 1998, 18.00 Uhr gewährte Frist zur Abgabe einer eigenen schriftlichen Erklärung abgelaufen ist.

b) Mit seiner am 11. Mai 1998 eingegangenen Organklage (Hauptsache) wendet sich der Antragsteller u.a. gegen den Beschluß des Ausschusses vom 8. Mai 1998. Er sieht sich durch den Bericht und das vorausgegangene Verfahren des Ausschusses in seinen Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt.

Mit seinem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wollte der Antragsteller erreichen, daß der abschließende Bericht des Ausschusses bis zur Entscheidung über seine Organklage nicht als Bundestagsdrucksache veröffentlicht werden darf.

II.

Der Zweite Senat hat entschieden, daß der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung unbegründet ist.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Im Organstreitverfahren bedeute der Erlaß einer einstweiligen Anordnung einen Eingriff in die Autonomie eines Staatsorgans. Eine einstweilige Anordnung komme daher nur in Betracht, um das strittige Recht des Antragstellers vorläufig zu sichern, damit es bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht durch vollendete Tatsachen überspielt werde.

Eine solche Sicherung sei hier nicht erforderlich. Der Senat habe sich darauf verständigt, die Organklage bis Ende Juli 1998 in der Hauptsache zu entscheiden. Veröffentliche der Bundestag den Bericht des Ausschusses - wie vorgesehen - zuvor in der Form einer Bundestagsdrucksache, werde der Öffentlichkeit das Ergebnis des Berichts nicht erstmals bekannt, da es schon jetzt Gegenstand der Berichterstattung in den Medien sei. Allerdings könne die Veröffentlichung in einer offiziellen Drucksache dem für den Antragsteller nachteiligen Ergebnis zusätzliches Gewicht verleihen. Auch würden Sachverhaltskomplexe, aus denen der Bericht sein Ergebnis ableite, im einzelnen bekannt. Dies werde in seinen Auswirkungen allerdings dadurch abgemildert, daß der Antragsteller von seinem Recht Gebrauch machen könne, in einer dem Bericht beizufügenden Erklärung die Beweisführung des Ausschusses zu entkräften.

Die danach für den Antragsteller verbleibenden Nachteile könnten ausgeglichen werden, falls sich herausstelle, daß die Hauptsache Erfolg habe. Eine zeitnahe verfassungsgerichtliche Beanstandung des Ausschußberichts würde in der Öffentlichkeit besonders aufmerksam wahrgenommen und gewürdigt werden und wäre daher geeignet, den Antragsteller von dem Vorwurf zu entlasten, inoffiziell für das MfS tätig gewesen zu sein.

III.

Der Senat hat Termin zur mündlichen Verhandlung über die Hauptsache auf Dienstag, den 30. Juni 1998, 10.00 Uhr festgesetzt.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 57/98 vom 28. Mai 1998

Bundesverfassungsgericht: "Stasi-Überprüfung" von Abgeordneten durch den Bundestag verletzt nicht den verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus

Der Zweite Senat des BVerfG hat durch einstimmigen Beschluß vom 21. Mai 1996 entschieden, daß das in § 44b Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes (AbgG) geregelte Verfahren zur Überprüfung von Bundestagsabgeordneten auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst ("Stasi") der DDR mit den Rechten der betroffenen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar ist.

I.

Dem Organstreitverfahren liegt ein Antrag des Bundestagsabgeordneten Dr. Gregor Gysi zugrunde. Der Antragsteller begehrte die Feststellung, daß die Durchführung eines Verfahrens gem. § 44b AbgG seine Rechte als Abgeordneter aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletze.

Gemäß dem am 26. Januar 1992 in Kraft getretenen § 44b Abs. 2 AbgG kann ein Bundestags-Ausschuß einen Abgeordneten des Bundestages ohne dessen Zustimmung auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit oder politische Verantwortung für den "Stasi" der DDR überprüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht einer solchen Tätigkeit oder Verantwortung vorliegen. Weitere Einzelheiten und Kriterien des Überprüfungsverfahrens sind in Richtlinien und Absprachen festgelegt.

In den Richtlinien heißt es u.a., daß die Feststellung des Ausschusses unter Angabe der wesentlichen Gründe als Drucksache veröffentlicht wird.

Am 9. Februar 1995 beschloß der zuständige BundestagsAusschuß die Überprüfung des Abgeordneten Dr. Gysi nach § 44b Abs. 2 AbgG. Dieses Überprüfungsverfahren ist im Hinblick auf den beim BVerfG gestellten Antrag noch nicht abgeschlossen.

II.

Der Zweite Senat hat entschieden, daß der Antrag des Abgeordneten, soweit er sich gegen das zu seiner Person durchgeführte Verfahren wendet, zwar zulässig, aber unbegründet ist.

Das Überprüfungsverfahren berührt zwar die Rechte aus dem Abgeordnetenstatus, weil es dazu führen kann, daß die Legitimität des Mandats in Abrede gestellt wird. Allerdings ist im vorliegenden Fall eine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung des Abgeordnetenstatus nicht festzustellen.

Zwar darf der Bundestag nur ausnahmsweise zur Wahrung seiner Integrität und politischen Vertrauenswürdigkeit ein der Wahl vorausliegendes Verhalten von Abgeordneten untersuchen. Ein solcher Ausnahmefall liegt in Anbetracht des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in den neuen Ländern der Bundesrepublik vor. Diese besondere historische Situation gestattet es, ein Verfahren einzuführen, durch das Abgeordnete unter bestimmten Voraussetzungen auf ihre frühere Tätigkeit oder Verantwortung für den "Stasi" überprüft werden. Sind Abgeordnete in den Deutschen Bundestag gewählt worden, bei denen im Sinne des § 44b Abs. 2 AbgG besondere Verdachtsmomente für eine solche Tätigkeit vorliegen, so kann der Bundestag ein öffentliches Untersuchungsinteresse annehmen. Er darf dann davon ausgehen, daß das Vertrauen in das Repräsentationsorgan in besonderer Weise gestört wäre, wenn ihm Repräsentanten angehörten, bei denen der Verdacht besteht, daß sie durch politische Kontrolle und Unterdrückung der Bevölkerung eine Diktatur unterstützt und Freiheitsrechte der Bürger verletzt haben.

Der Senat führt im einzelnen aus, daß ein solches, nur in Ausnahmefällen zulässiges Verfahren jedoch von Verfassungs wegen Sicherungen zum Schutz des Abgeordnetenstatus hinsichtlich der abschließenden Verfahrensfeststellung, der Beteiligungsrechte des betroffenen Abgeordneten und der weiteren Verfahrensgestaltung enthalten muß.

Das vom Bundestag beschlossene Verfahren wird diesen Anforderungen gerecht, und zwar auch, soweit es auf die Beweismittel des Zeugen- und Sachverständigenbeweises verzichtet und sich auf eine Überprüfung des Verdachts lediglich anhand von Urkunden und Angaben des Betroffenen beschränkt. Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der Ausschuß von der Verstrickung des betroffenen Abgeordneten eine so sichere Überzeugung gewinnen müsse, daß auch angesichts der beschränkten Beweismöglichkeiten vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung ausgeschlossen seien. Anderenfalls steht es dem Ausschuß offen, in den Gründen die Beweislage darzustellen. Mutmaßungen sind ihm verwehrt.

Beschluß vom 21. Mai 1996 - 2 BvE 1/95