Bundesverfassungsgericht

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Zur Frage, ob frühere Beamtinnen trotz Erhalt einer Abfindung Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nachentrichten können

Pressemitteilung Nr. 68/1998 vom 19. Juni 1998

Beschluss vom 08. April 1998
1 BvL 16/90

Der Erste Senat des BVerfG hat in einem gerichtlichen Vorlageverfahren folgendes entschieden:

Es ist verfassungsrechtlich geboten, früheren Beamtinnen, die wegen ihrer Eheschließung aus dem Beamtenverhältnis unter Gewährung einer Abfindung ausgeschieden sind, die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung für die Dauer ihres Beamtenverhältnisses zu gestatten.

I.

Eine 1924 geborene, in Nordrhein-Westfalen seit April 1949 tätige Beamtin schied wegen ihrer Eheschließung am 30. September 1953 unter Gewährung einer Abfindung aus dem Beamtenverhältnis aus. Anschließend war sie zeitweise als versicherungspflichtige Angestellte beschäftigt.

Im März 1985 beantragte sie die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gemäß Art. 2 § 27 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten (Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz - AnVNG) in der Fassung von Juli 1969 (Wortlaut s. Anlage) für dit ihrer Tätigkeit als Beamtin. Dies wurde unter Hinweis auf die gezahlte Abfindung abgelehnt. Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos.

Im Revisionsverfahren hat das Bundessozialgericht (BSG) das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG mit der Frage vorgelegt, ob der - inzwischen außer Kraft getretene - Art. 2 § 27 Abs. 1 S. 1 AnVNG mit Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz) vereinbar ist. Nach Auffassung des BSG ist die Vorschrift mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Frühere Angestellte sowie frühere Beamtinnen könnten bei späterer Wiederaufnahme oder Weiterführung dieser Tätigkeit die entstandene Versorgungslücke unter bestimmten Voraussetzungen schließen. Hiervon seien frühere Beamtinnen, die später Angestellte geworden sind, nach geltendem Recht schlechthin ausgeschlossen.

Für diese Ungleichbehandlung gäbe es keine rechtfertigenden Gründe.

II.

Der Senat hat entschieden, daß Art. 2 § 27 Abs. 1 S. 1 AnVNG bei verfassungskonformer Auslegung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist. Das bedeutet, daß auch frühere Beamtinnen für den Zeitraum, für den ihre Versorgungsbeiträge abgefunden wurden, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nachentrichten können, wenn sie später als Angestellte tätig sind.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Früheren Angestellten, die später wieder im Angestelltenverhältnis tätig sind, sowie früheren Beamtinnen, die später wieder in das Beamtenverhältnis übernommen werden (sogenannte Systemrückkehrer), ist die Nachentrichtung von Beiträgen trotz Abfindung möglich. Das gilt jedoch nicht für sogenannte Systemwechsler (frühere Beamtinnen/spätere Angestellte oder frühere Angestellte/spätere Beamtinnen), zu denen die Klägerin des Ausgangsverfahrens gehört. Sie sind gesetzlich von der Möglichkeit zur Reaktivierung ihrer Altersversorgungsanwartschaften ausgeschlossen. Für diese Ungleichbehandlung findet sich kein rechtfertigender Grund.

Zwar unterscheidet sich die Gruppe der von der der "Systemwechsler" durch die Nähe zum sozialen Sicherungssystem. So weisen frühere Angestellte eine längere Bindung zur Rentenversicherung auf, weil sie im Gegensatz zu früheren Beamtinnen Beiträge entrichtet und damit bereits vor ihrer Heirat zur Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung beigetragen haben. Dieser Gesichtspunkt vermag jedoch den völligen Ausschluß der Personengruppe, zu der die Klägerin des Ausgangsverfahrens gehört, von der Möglichkeit der Reaktivierung früherer Versorgungsanwartschaften nicht zu begründen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die erneute Begründung eines Beamtenverhältnisses nicht nur von der Grundsatzentscheidung der Frau für eine Rückkehr in das Erwerbsleben abhängt, sondern auch von der Erfüllung spezifischer beamtenrechtlicher Einstellungsvoraussetzungen (z.B. Höchstaltersgrenze), die das Arbeitsrecht nicht kennt.

Auch das von der Bundesregierung vorgetragene Prinzip, daß eine einmal getroffene Entscheidung, wie z.B. die Austrägen oder der Verzicht auf Nachversicherung aus Anlaß einer Eheschließung, nicht mehr korrigiert werden könne, vermag die Benachteiligung der "Systemwechsler" nicht zu rechtfertigen. Denn dieses Prinzip wird bereits zugunsten der "Systemrückkehrer" durchbrochen. Es geht also allein darum, ob diese Durchbrechung ohne Verstoß gegen das GG einer anderen Gruppe vorenthalten werden darf, die unter dem Gesichtspunkt der "Rückkehr in die Erwerbstätigkeit" der bevorzugten Gruppe gleichsteht. Hierfür existieren jedoch keine gewichtigen Gründe.

2. Die zur Prüfung vorgelegte Norm läßt sich jedoch so auslegen, daß sie nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift auf die Gruppe von Personen, zu denen die Klägerin des Ausgangsverfahrens gehört, stehen unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles keine durchgreifenden Bedenken entgegen.

Es gibt keinen Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber im Zeitpunkt des Erlasses der Vorschrift durch eine entsprechende Tatbestandserfassung diesen Personenkreis ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich ausschließen wollte.

Zwar könnte der Gesetzgeber die verfassungswidrige Benachteiligung auch durch ein noch zu schaffendes Gesetz beseitigen. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles ist jedoch eine verfassungskonforme Anwendung der zur Prüfung vorgelegten Vorschrift eher geeignet, den gleichheitswidrigen Zustand zu beseitigen. Die Personengruppe, zu der die Klägerin des Ausgangsverfahrens gehört, ist - soweit ersichtlich - sehr klein. Es erscheint daher nicht angemessen, zur Beseitigung ihrer rechtlichen Benachteiligung ein eigenes Gesetzgebungsverfahren zu veranlassen, zumal dessen Zeitbedarf dazu führen könnte, daß die betroffene Gruppe keinen Nutzen aus einer Neuregelung ziehen kann.

Dem Gesetzgeber bleibt es allerdings unbenommen, den Gleichheitsverstoß auf andere Weise zu beheben.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 68/98 vom 19. Juni 1998

Art. 2 § 27 Abs. 1 AnVNG

Weibliche Versicherte, die eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben und denen aufgrund des § 83 des Angestelltenversicherungsgesetzes, des § 1304 der Reichsversicherungsordnung oder des § 96 des Reichsknappschaftsgesetzes in den am 31. Dezember 1967 geltenden Fassungen oder aufgrund der jeweils geltenden, den genannten Vorschriften sinngemäß entsprechenden Vorschriften Beiträge erstattet worden sind, können auf Antrag abweichend von den Regelungen des § 140 des Angestelltenversicherungsgesetzes und des § 1418 der Reichsversicherungsordnung für die Zeiten, für die Beiträge aufgrund der genannten Vorschriften erstattet worden sind, bis zum 1. Januar 1924 zurück Beiträge nachentrichten, soweit die Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt sind. Das Recht auf Nachentrichtung von Beiträgen besteht nur, wenn nach der Beitragserstattung während mindestens 24 Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet