Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen strafgerichtliche Verurteilung

Pressemitteilung Nr. 93/1998 vom 26. August 1998

Beschluss vom 29. Juli 1998
1 BvR 287/93

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb) Verfahren eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung des Staates (§ 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB) durch den Text eines Flugblattes aufgehoben. Das Strafgericht hat bei seiner Entscheidung das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) nicht ausreichend berücksichtigt. Diese verfassungsgerichtliche Entscheidung bedeutet für den Beschwerdeführer (Bf) keinen "Freispruch". Vielmehr hat die Kammer die Sache an das Strafgericht zurückverwiesen, das unter Beachtung der Gründe der verfassungsgerichtlichen Entscheidung erneut entscheiden muß. Hierbei hat es insbesondere zu prüfen, ob der der Verurteilung zugrundegelegte Flugblattext auch andere inhaltliche Deutungen zuläßt und ob auch diese strafbar wären.

I.

Zum Gedenken an den im September 1980 erfolgten Sprengstoffanschlag auf dem Oktoberfest in München, bei dem 13 Menschen getötet und eine Vielzahl zum Teil schwer verletzt worden waren, veranstalteten mehrere Gruppierungen im September 1991 eine "Mahn- und Schutzwache". Sie verteilten anläßlich dieser Veranstaltung ein Flugblatt (Wortlaut s. Anlage), für das der Bf verantwortlich zeichnete. Das Landgericht München I (LG) verurteilte ihn wegen Verunglimpfung des Staates zu einer Geldstrafe. Die Revision zum Bayerischen Obersten Landesgericht blieb erfolglos. Gegen die strafgerichtliche Verurteilung erhob der Bf Vb zum BVerfG und rügte u.a. eine Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit.

II.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat der Vb stattgegeben.

Zur Begründung heißt es u. a.:

  1. Das Flugblatt enthält überwiegend Meinungen. Diese fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne daß es dabei auf Begründetheit oder Richtigkeit ankäme. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden.
  2. Im Hinblick auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit haben Strafgerichte bei einer Verurteilung wegen Äußerungsdelikten insbesondere zwei Aspekte zu beachten: Zum einen darf der Äußerung keine Deutung beigelegt werden, die sie objektiv nicht hat, und im Falle der Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgegangen werden, ehe andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen worden sind. Zum anderen ist gerade wie hier bei Staatsschutznormen besonders sorgfältig zwischen einer (straflosen) Polemik wie verfehlt sie auch immer erscheinen mag und einer (strafbaren) Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung zu unterscheiden. Denn Art. 5 Abs. 1 GG ist gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen und findet darin unverändert seine Bedeutung.
  3. Diesen Erfordernissen wird die Entscheidung des LG nicht gerecht.

    a) Es hat das Flugblatt dahingehend interpretiert, daß die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern mit einem faschistischen Staat gleichgesetzt würden. Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dies als Beschimpfung im Sinne von § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB anzusehen. Eine solche Gleichsetzung ergibt sich jedoch nicht zwingend und alternativlos aus dem Text des Flugblatts. Die Kammer führt aus, daß der Aufbau des Flugblatts in drei thematisch verschiedene Teile auch die Auslegung zuläßt, daß der Vorwurf der Blindheit oder Nachsichtigkeit deutscher Staatsorgane gegenüber neonazistischen Bestrebungen erhoben wird, ohne daß darin zugleich die Behauptung einer Billigung solcher Taten und Bestrebungen oder gar eine Gleichsetzung mit faschistischen Staaten liegen müßte. Dasselbe gilt für die Charakterisierung der deutschen Politik als aggressiver Großmachtpolitik. Auch diese Äußerung läßt sich als kritische Bewertung deutscher Politikziele verstehen, ohne daß damit die Bundesrepublik insgesamt einem faschistischen Staat gleichgestellt würde. Dabei kommt es für die Deutung der Äußerung nicht darauf an, ob derartige Vorwürfe berechtigt wären oder nicht. Ausschlaggebend ist vielmehr nur, ob auch dann, wenn dieser Auslegung der Vorzug gebührte, der Tatbestand von § 90 a Abs. 1 Nr. 1 StGB als erfüllt gelten könnte. Derartige Deutungsalternativen hat das LG jedoch nicht in Erwägung gezogen. Eine Notwendigkeit hierfür bestand aber um so mehr, als die Gründe, die das LG für seine Deutung anführt, einer Nachprüfung nicht durchweg standhalten. In der in der landgerichtlichen Entscheidung in Anführungszeichen gesetzten, in der zitierten Form im Flugblatt aber nicht vorhandenen Aussage, "Die Staatsorgane hätten die Aufklärung der Hintergründe und Täter des Bombenanschlages auf das Oktoberfest behindert", liegt nicht zwingend, wie das LG meint, die Behauptung, das Attentat sei den Staatsorganen deswegen genehm gekommen, damit sie wieder politische Ziele verfolgen konnten, die bereits Hitler verfolgt habe. Die zur Stützung dieser Annahme herangezogene Passage über "Die Hintergründe" im ersten Teil des Flugblatts läßt sich dafür gar nicht verwerten, weil sie sich nicht auf die Staatsorgane oder Politiker der Bundesrepublik, sondern auf die "Bombenleger" bezieht. Ebensowenig ergibt sich aus der im Flugblatt enthaltenen Aussage, Kriegsverbrecher würden durch Rückgabe ihres in der DDR enteigneten Besitzes belohnt, etwas für die Gleichsetzung der Bundesrepublik oder Bayerns mit einem faschistischen Staat. Schließlich folgt auch aus dem Umstand, daß der Begriff "Großdeutschland" in dem Flugblatt sowohl für die Ziele Hitlers und der Wehrsportgruppe Hoffmann als auch der Bundesregierung verwendet wird, nicht notwendig, daß die Bundesrepublik in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild nur als "Fortführung des Dritten Reiches" gesehen werde, wie das LG annimmt.

    b) Selbst wenn jedoch die vom LG vorgenommene Deutung des Flugblatttextes zutreffend wäre, hätte es einer verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung zwischen der Schwere der Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit durch die Verurteilung einerseits und dem Grad der Beeinträchtigung des von § 90 a StGB geschützten Rechtsguts durch die Äußerung andererseits bedurft. Eine solche Abwägung ist jedoch gänzlich unterblieben. Sie war auch nicht etwa unter dem Gesichtspunkt "Schmähkritik" entbehrlich. Zwar führt eine Schmähung regelmäßig zum Zurücktreten des Rechts auf Meinungsfreiheit. Im vorliegenden Fall ist jedoch eine Schmähung vom LG weder hinreichend begründet worden noch liegen deren Voraussetzungen vor. Die Kammer hat in diesem Zusammenhang offen gelassen, ob die Grundsätze der Schmähkritik nicht nur auf Personen, sondern auch auf den Staat bezogen werden können. Jedenfalls genügt nicht schon eine überzogene oder gar ausfällige Kritik, hinzutreten muß vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung bestehen. Dem Bf ging es wie auch das Bayerische Staatsministerium einräumt um eine politische Auseinandersetzung mit die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen, nämlich die Ermittlungstätigkeit nach dem Bombenanschlag, die Einstellung der Polizei und der Politiker gegenüber ausländerfeindlichen Gewalttaten, die Rückgabe von enteignetem Fabrikbesitz sowie die außenpolitische Einstellung und das Auftreten der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung. Von einer Schmähkritik könnte nur dann gesprochen werden, wenn in diesen Äußerungen auch unter Berücksichtigung ihres Kontextes die Sachauseinandersetzung von der Diffamierung des Staates völlig in den Hintergrund gedrängt worden wäre. Daran bestehen aber gerade deshalb Zweifel, weil die teilweise scharf und überspitzt formulierten Äußerungen ersichtlich dazu dienten, die Schlußfolgerung aus der kritisierten politischen Situation zu belegen.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 93/98 vom 26. August 1998

Inhalt des Flugblatts:

"26. September 1980 faschistischer Anschlag auf das Oktoberfest

Vergessen? Niemals!

Am 26. September jährt sich zum elften Mal der Tag des neonazistischen Bombenanschlags auf das Oktoberfest. 13 Menschen verloren dabei ihr Leben. Über 200 wurden zum Teil schwer verletzt, viele von ihnen fristen seither ihr Leben als Krüppel.

Die Hintergründe: Kurz vor der Bundestagswahl mit dem Kanzlerkandidaten F.J. Strauß sollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann herbeigebombt werden, einer der Deutschland wieder zu dem machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte: "Ruhe und Ordnung" nach innen, Großdeutschland nach außen.

Die Blutspuren waren von den Wasserwerfern noch nicht weggespült, da gab Franz Josef Strauß die Parole aus, bei den Tätern handle es sich um Linke aus der DDR. Eine "Panne", die Strauß nicht ins Konzept paßte: Der blutdurchtränkte Ausweis Gundolf Köhlers, eines Mitglieds der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann wurde gefunden. Was tut die bayerische Staatsregierung, was tut das Bundeskriminalamt? Man setzt eine Einzeltätertheorie in die Welt: Gundolf Köhler war ein Verrückter, er hat die Bombe allein fabriziert und geworfen. Politischer Hintergrund: Keiner ...

Die Untersuchungen werden abgebrochen,

  • obwohl eine Fülle von Zeugenaussagen gegen die Einzeltäterschaft Köhlers sprechen
  • obwohl die Selbstbezichtigung eines Mitglieds der Wehrsportgruppe Hoffmann vorlag.

Die Täter wurden nie gefaßt. Sie laufen noch heute frei herum, weil Bundesanwaltschaft und kriminalamt unter eifriger Hilfestellung von Strauß und seiner CSU die Ermittlungen bereits nach zwei Jahren endgültig einstellten.

Heute, ein Jahr nach der sogenannten "Wiedervereiniung", sprich Einverleibung der DDR, ist Großdeutschland durch die offizielle Regierungspolitik bereits Realität. Die Liste mörderischer Anschläge unter dem Zeichen deutschen Großmachtgebärdens wird täglich länger.

  • Da ermorden rechtsradikale Skins den Mosambikaner Jorge Gomondai. Dazu erklärt der Sprecher der sächsischen Landesregierung Dr. Michael Kinze (CDU): "Die Regierung des Freistaates wird sich bemühen, gesunde, attraktive Alternativen für die Freizeitgestaltung zu finden".
  • Wo Großdeutschland seine Soldaten in der ganzen Welt für "Ruhe und Ordnung" schießen lassen will, da ist es nichts besonderes mehr, wenn ein Bundeswehrsoldat hier in München zwei wehrlose türkische Jugendliche von hinten niederschießt.
  • Wo ganze Länder zur Bereicherung einer Minderheit ausgeblutet und ihres Selbstbestimmungsrechtes beraubt werden, da ist der Knüppel auf den Flüchtling nur die letzte Station: Keine Woche vergeht ohne Überfall auf ein Asylbewerberheim.

Die Staatsorgane betrachten das Schlagen und Morden mit verschränkten Armen. Polizisten erklären offen "die Skins machen für uns Arbeit, wenn sie am Bahnhof die Roma abräumen" (SZ 16.5.91). Und wenn sie sich prügeln (wie z.B. am 9.9.91 bei dem Überfall auf eine Polizeiwache zur Befreiung eines Neonazis), trägt dies Züge von rivalisierenden Banden. Politiker gießen tagtäglich Öl ins Feuer, einzig und allein, um die Mordstimmung weiter anzuheizen wie zuletzt mit dem Vorschlag, Asylbewerber in die Wiesn Zelte zu stecken.

Den Mordanschlag der Faschisten vergessen?

In einem Land, das keinen einzigen Nazirichter für seine Bluturteile zur Rechenschaft zog, dessen Gerichte die übergroße Mehrzahl der Schreibtischmörder und KZ Schergen bis auf den heutigen Tag unbehelligt ließ, das Kasernen nach Nazigenerälen benannte?

In einem Land, in dem inzwischen z.B. der SS Arzt Harrer die DDR von Nazigegnern säubert?

In einem Land, in dem die schlimmsten Verbrecher der Menschheit, die deutschen Kriegsverbrecher, ihren in der DDR enteigneten Fabrikbesitz wieder in Beschlag nehmen und damit geradezu belohnt werden?

In einem Land, dessen Staatsorgane die Vertuschung des faschistischen Anschlags auf das Oktoberfest betrieben, dessen Staatsorgane Faschisten an "Führers Geburtstag" demonstrieren und vor Gegendemonstrationen schützen läßt, sie so zu weiteren Bluttaten ermutigt?

Wie können wir in einem solchen Land vergessen, in einer Zeit, in der die Regierung selbst auf ihre Fahnen geschrieben und durchgesetzt hat, wofür der Wehrsportgruppenchef Karl Heinz Hoffmann seine Leute trainierte: ein aggressives Großdeutschland im Herzen Europas. Vergessen? Niemals!"