Bundesverfassungsgericht

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Neuregelung der "Montan-Mitbestimmung" ist nur zum Teil mit dem GG vereinbar

Pressemitteilung Nr. 24/1999 vom 2. März 1999

Urteil vom 02. März 1999
1 BvL 2/91

Der Erste Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. November 1998 folgendes Urteil gefällt:

1. Es ist mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar, bei Nichterfüllung der Wertschöpfungsquote auf die Beschäftigtenzahl (mehr als 2.000) bei den montan-mitbestimmten Konzernunternehmen und abhängigen Unternehmen abzustellen (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 MitbestErgG n.F.).

Dies gilt sowohl für die Frage, ob ein Unternehmen erstmals der Montan-Mitbestimmung unterliegt, als auch für die Frage, ob es aus der Montan-Mitbestimmung ausscheidet (vgl. § 16 MitbestErgG n.F.).

§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 MitbestErgG n.F. weist keinen ausreichenden Montan-Bezug auf und ist nichtig.

2. Hingegen ist die als Kriterium gewählte Montan-Wertschöpfungsquote von 20% (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 MitbestErgG n.F.) mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) hat auf der Grundlage dieses Urteils zu entscheiden, nach welchen gesetzlichen Vorschriften der Aufsichtsrat der Mannesmann-AG künftig zu besetzen ist.

Im Hinblick auf die Einzelheiten der Rechtslage, des Vorlagebeschlusses des OLG Düsseldorf und des Wortlauts der einschlägigen Vorschriften wird auf die Pressemitteilung Nr. 100/98 vom 14. September 1998 Bezug genommen.

Der Erste Senat führt zur Begründung u.a. aus:

I. Maßstab

Prüfungsmaßstab ist vornehmlich der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG).

Danach war der Gesetzgeber bei der Neuregelung der Montan-Mitbestimmung einerseits nicht bloß an das Willkürverbot gebunden. Andererseits unterlag er aber auch nicht den strengen Bindungen an Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Es genügt vielmehr, daß die differenzierende gesetzliche Regelung auf hinreichend sachbezogenen, vertretbaren Gründen beruht.

Die zur Prüfung stehende Regelung unterwirft Konzernobergesellschaften, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, der qualifizierten Montan-Mitbestimmung, während für die übrigen Konzernobergesellschaften das allgemeine Mitbestimmungsgesetz gilt. Die Folge besteht in unterschiedlichen Maßgaben für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Gesellschaften, die wiederum Auswirkungen auf die Unternehmenstätigkeit haben kann. Der Senat führt aus, daß die dadurch bewirkten Unterschiede allerdings nicht sehr gewichtig sind.

Auch in tatsächlicher Hinsicht läßt sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung keine besonders nachhaltige Erschwerung der unternehmerischen Entscheidungsabläufe oder Verminderung der Rentabilität feststellen. Zwar mag der bei diesem Mitbestimmungsmodell bestehende erhöhte Kompromißzwang dazu führen, daß Entscheidungen verzögert werden oder in Einzelfällen ganz unterbleiben. Dem stehen aber die breitere Konsensbasis und die damit regelmäßig verbundene größere Tragfähigkeit der Entscheidungen gegenüber.

Zu berücksichtigen sind auch die Grundrechtsbelange der Unternehmer und Anteilseigner (Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG, Eigentumsgarantie gemäß Art. 14 GG). Der soziale Bezug dieser grundrechtlich geschützten Tätigkeiten ist bei der zur Prüfung gestellten Norm jedoch stark ausgeprägt. Insbesondere stehen den Grundrechtsbelangen der Unternehmen und der Anteilseigner ebensolche der Arbeitnehmer gegenüber. Der Gesetzgeber versteht die Montan-Mitbestimmung als Teil der auf partnerschaftliches Zusammenwirken angelegten Sozial- und Wirtschaftsordnung. Beim Ausgleich derartiger Interessenkonflikte steht ihm regelmäßig ein beträchtlicher Spielraum zu.

II. Anwendung des Maßstabs auf die zur Prüfung gestellte Norm

Bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs ist § 3 Abs. 2 S. 1 MitbestErgG n.F. nicht in vollem Umfang mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

1. Das gesetzgeberische Ziel begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Dem Gesetz liegt das Bestreben zugrunde, die Montan-Mitbestimmung angesichts veränderter Verhältnisse zu sichern. Diese Sicherungsabsicht war durch die Entwicklung im Bereich der Montan-Industrie auch ausreichend indiziert. Aufgrund des Rückgangs der Montan-Anteile in den bisher montan-mitbestimmten Gesellschaften stand 1989 mit einer einzigen Ausnahme für alle Konzernobergesellschaften das Ende des Montan-Statuts nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz oder dem MitbestErgG bevor. Infolge der Konzernbildung wäre dadurch zudem die Fortgeltung der Montan-Mitbestimmung bei den konzernangehörigen Montan-Unternehmen in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt worden.

Der Gesetzgeber konnte auch davon ausgehen, daß die Montan-Mitbestimmung als Sonderformen der Unternehmensmitbestimmung weiterhin sicherungswürdig war. Seine Einschätzung, das MitbestErgG habe sich über lange Jahre bewährt, ist vertretbar und auch in der mündlichen Verhandlung nicht in Abrede gestellt worden. Aufgrund dessen bildet das Anliegen, die Montan-Mitbestimmung beizubehalten, einen grundsätzlich tragfähigen Differenzierungsgrund im Verhältnis zwischen den Montan-Altunternehmen, die unter § 16 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 3 Abs. 2 MitbestErgG n.F. fallen, und den Unternehmen ohne eine solche Montan-Tradition.

Der Senat führt aus, daß der Gesetzgeber auch davon ausgehen durfte, daß die Beibehaltung der Montan-Mitbestimmung zur Bewältigung derjenigen Anpassungsprobleme beitragen werde, die sich gerade in diesem Industriezweig stellen und noch nicht vollständig gelöst sind. Der erforderliche sachliche Zusammenhang zwischen dem Zweck der Regelung und dem als Mittel gewählten Differenzierungsmerkmal ist dadurch gegeben.

Der Gesetzgeber konnte sich bei seiner Entscheidung auch auf den verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgrundsatz berufen. Die langjährige Bewährung der Montan-Mitbestimmung kann in der noch nicht voll bewältigten Strukturkrise dieses Industriezweiges zu einer sozial verträglichen Lösung beitragen. Da die Montan-Mitbestimmung noch stärker als die allgemeine Unternehmensmitbestimmung auf einvernehmliche Problembewältigung angelegt ist, eignet sie sich besonders dazu, neben dem Rentabilitätsinteresse der Unternehmen und den Renditeerwartungen der Anteilseigner auch die Interessen der Arbeitnehmer an der Sicherung von Arbeitsplätzen angemessen zu berücksichtigen.

2. Die vom Gesetzgeber gewählten Differenzierungsmerkmale halten den verfassungsrechtlichen Anforderungen jedoch nicht durchweg stand. Lediglich das Kriterium der "Wertschöpfung" (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 MitbestErgG n.F.), nicht das der "Beschäftigtenzahl" (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 MitbestErgG n.F.) ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Die Sonderform der Montan-Mitbestimmung kann nur durch solche Merkmale gerechtfertigt werden, die gerade auf die Montan-Industrie zutreffen und sie folglich von anderen Industriezweigen unterscheiden. Grundbedingung für die Verfassungsmäßigkeit ihrer Fortgeltung ist daher, daß nur Unternehmen von der Regelung erfaßt werden, die einen ausreichenden Montan-Bezug aufweisen. Fehlt es an einem derartigen Bezug, so entbehrt die Ungleichbehandlung gegenüber den nicht montan-mitbestimmten Unternehmen des rechtfertigenden Grundes.

Der insoweit bestehende weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers endet dort, wo das gewählte Kriterium keine Aussagekraft über den Montan-Bezug besitzt oder derart niedrig angesetzt wird, daß von einem den Unternehmenscharakter mitprägenden Faktor nicht mehr die Rede sein kann.

a) Die vom Gesetzgeber als Kriterium gewählte Montan-Wertschöpfungsquote ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Die Höhe von 20% des Umsatzes erscheint zwar sehr niedrig. In Anbetracht der Bedeutung, die der Gesetzgeber dem Anliegen der Sicherung der Montan-Mitbestimmung beimessen durfte, ist sie aber noch vertretbar. Dies gilt um so mehr, als die Quote nur auf die zuvor schon der Montan-Mitbestimmung unterworfenen Obergesellschaften Anwendung findet, in denen diese Mitbestimmungsformen sich als eingespieltes Instrument des sozialverträglichen Interessenausgleichs bewährt hat und schwerwiegende Nachteile nicht erkennbar geworden sind.

Auch die Frist von sechs Jahren, in der die Quote nach § 16 MitbestErgG n.F. unterschritten sein muß, bis eine Konzernobergesellschaft aus der Montan-Mitbestimmung ausscheidet, hält sich im Rahmen des verfassungsrechtlich Vertretbaren. Dem Gesetzgeber ging es darum, einen Wechsel des Mitbestimmungsstatuts durch kurzfristige Schwankungen oder absichtsvoll herbeigeführte, jedoch nicht auf längere Dauer angelegte Veränderungen zu verhindern.

b) Dagegen hält das Kriterium in § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 MitbestErgG n.F., das bei Nichterfüllung der Wertschöpfungsquote auf die Beschäftigtenzahl bei den montan-mitbestimmten Konzernunternehmen und abhängigen Unternehmen abstellt, einer Prüfung am Gleichheitsgrundsatz nicht stand.

In der vom Gesetzgeber gewählten Form ist die Belegschaftsstärke ungeeignet, einen ausreichenden Montan-Bezug, der die Fortgeltung der Montan-Mitbestimmung rechtfertigt, zu gewährleisten. Im Unterschied zu einer Prozentzahl wie beim Wertschöpfungskriterium bringt eine absolute Zahl den Grad des Montan-Bezugs nicht hinreichend zum Ausdruck.

Es ist auch kein Anhaltspunkt für die Annahme ersichtlich, daß die absolute Zahl von 2.000 regelmäßig auf einen entsprechend hohen Anteil der Montan-Produktion im Konzern hindeutet. Das zeigen gerade die in der mündlichen Verhandlung vom Mannesmann-Vorstand vorgelegten Zahlen. Bei einer Inlandsbelegschaft von rund 80.000 Arbeitnehmern im Jahr 1997 ergäben 2.000 in montan-mitbestimmten Unternehmen Beschäftigte einen Anteil von 2,5% der Gesamtbelegschaft. Ein derart niedriger Anteil reicht nicht aus, Konzerne als so montan-mitgeprägt auszuweisen, daß die unterschiedliche Behandlung im Vergleich mit Unternehmen ohne Montan-Anteil gerechtfertigt wäre.

c) Die Differenzierung zwischen Konzernobergesellschaften mit Montan-Bezug, je nachdem, ob sie bisher schon der Montan-Mitbestimmung unterlagen oder nicht, ist ebenfalls nicht in vollem Umfang mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Zwar ist auch insoweit der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, die schon früher montan-mitbestimmten Unternehmen in dieser bewährten Mitbestimmungsform zu halten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Dieser Zweck rechtfertigt jedoch lediglich unterschiedliche Montan-Wertschöpfungsquoten für den Eintritt aus der und den Eintritt in die Montan-Mitbestimmung.

Dagegen ist das Austrittskriterium der Beschäftigtenzahl von dem allein an Wertschöpfungsquoten gemessenen Eintrittskriterium derart weit entfernt, daß die Ungleichbehandlung darauf nicht gestützt werden kann. Es senkt die bereits an der Grenze des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren liegende Schwelle vielmehr in einer Weise ab, die vor Art. 3 Abs. 1 GG keinen Bestand hat.