Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschland aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21. Juli 1998 - hier: Verfahren zur Neuberechnung von Bestandsrenten mit Zusatz- oder Sonderversorgung

Pressemitteilung Nr. 50/1999 vom 28. April 1999

Urteil vom 28. April 1999
1 BvR 1926/96

Dem Verfahren lagen zwei Verfassungsbeschwerden (1 BvR 1926/96 und 1 BvR 485/97) zugrunde.

Der Erste Senat des BVerfG hat folgendes entschieden:

Es ist mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, daß bei der Neuberechnung von Bestandsrenten aus Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem der DDR für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte (Ost) die während der gesamten Versicherungszeit bezogenen tatsächlichen Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen zugrunde gelegt werden. Dies stellt eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber den sonstigen Bestandsrentnern der DDR dar, für die ein - in der Regel günstigerer - 20-Jahres-Zeitraum maßgeblich ist.

In diesem Umfang ist § 307b Abs. 1 des Sozialgesetzbuches (SGB) VI (in Kraft getreten am 1. Januar 1992) mit dem GG unvereinbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 30. Juni 2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu erlassen.

Bereits bestandskräftige, also nicht mehr anfechtbare Bescheide bleiben von diesem Urteil unberührt, soweit sie den Rentenbezugszeitraum bis zum Inkrafttreten der Neuregelung betreffen. Es ist dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Neuregelung auch für diesen Zeitraum auf bereits bestandskräftige Bescheide zu erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet ist er hierzu jedoch nicht.

I.

Hinsichtlich der Rechtslage und der Sachverhalte wird auf die Pressemitteilung Nr. 83/98 vom 16. Juli 1998 Bezug genommen.

Die Beschwerdeführer wendeten sich u.a. gegen § 307b SGB VI in der für dieses Verfahren maßgeblichen Fassung.

Nach dieser Vorschrift werden für die Neuberechnung von Bestandsrenten aus Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem der DDR für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte (Ost) die während der gesamten Versicherungszeit bezogenen tatsächlichen Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen zugrunde gelegt.

Hingegen wird der monatliche Rentenbetrag für die übrigen Bestandsrentner (solche aus der Sozialpflichtversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung) in einem pauschalen Verfahren ermittelt. Die Ermittlung ihrer Renten wird auf der Grundlage eines 20-Jahres-Zeitraums vorgenommen. Soweit aus den Verdiensten innerhalb dieses Zeitraums auf ein bestimmtes durchschnittliches versichertes Einkommen des gesamten Versicherungslebens geschlossen wird, bewirkt dies typischerweise eine Besserstellung. Denn auch in der DDR haben Versicherte regelmäßig gegen Ende ihres Erwerbslebens die höchsten Einkommen bezogen.

II.

Der Senat hat festgestellt, daß diese Ungleichbehandlung gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.

  1. Wenn Zusatz- und Sonderversorgte im Hinblick auf die Geltung der Beitragsbemessungsgrenze (§ 6 Abs. 1 S. 1 AAÜG) bei der Neuberechnung ihrer Renten gegenüber Angehörigen der Sozialpflichtversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung ohne Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG schlechter gestellt werden dürfen (vgl. Pressemitteilung Nr. 49/99 vom 28. April 1999), so bedarf es für jede darüber hinausgehende benachteiligende Regelung zu Lasten dieser Personengruppe einer besonderen Rechtfertigung.

    Ein solcher besonderer rechtfertigender Grund ist in bezug auf die Schlechterstellung Zusatz- und Sonderversorgter bei der rentenrechtlichen Berücksichtigung ihrer Versicherungsbiographien aber nicht ersichtlich.

    Bei zusatz- und sonderversorgten Personen bereiteten der Aufbau der Versicherungskonten und die Fertigung entsprechender Rentenbescheide außerordentliche Schwierigkeiten; dies hätte es nahegelegt, auch bei diesem Personenkreis ein vereinfachtes Verfahren zu wählen und entsprechend der für die übrigen Bestandsrentner geltenden Regelung des § 307a SGB VI nur den Datenbestand aus den letzten 20 Jahren des Arbeitslebens der Rentenberechnung zugrunde zu legen. Die Regelungen des SGB VI über das Rentenfeststellungsverfahren setzen allgemein eine gesicherte Datenlage voraus. Brauchbare Versicherungsunterlagen waren aber häufig weder bei den Berechtigten noch bei den Versorgungsträgern oder sonstigen Stellen vorhanden.

    Deshalb hat der Gesetzgeber später - im Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz - die Vorschriften über die Neuberechnung solcher Bestandsrenten ergänzt und Regelungen getroffen, die Beweiserleichterungen für die Feststellung rentenrechtlicher Zeiten und der in der DDR erzielten Verdienste bewirken (vgl. § 307c SGB VI). Auf die Ermittlung lange zurückliegender Entgelte hat er jedoch nicht verzichtet, ohne daß für diese unterschiedliche Behandlung innerhalb der Gruppe der Bestandsrentner aus dem Beitrittsgebiet ein hinreichender Grund ersichtlich wäre.

  2. Der Senat führt weiter aus, daß die im übrigen mit § 307b SGB VI verbundenen Ungleichbehandlungen zu Lasten der Rentner, die Zeiten in einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem in der DDR zurückgelegt haben, gerechtfertigt sind.

    a) Dies gilt zum einen für den Zeitpunkt der endgültigen Rentenfeststellung.

    Während für die Ermittlung der Rentenbeträge bei Bestandsrenten aus Zusatzversorgungssystemen und bestimmten Sonderversorgungssystemen ein vorläufiges Verfahren vorgeschaltet ist, werden Bestandsrenten aus der Sozialpflichtversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung demgegenüber regelmäßig sofort endgültig festgestellt. Dieses vorläufige Berechnungsverfahren wirkt sich insbesondere für Bezieher mittlerer und höherer Zusatzversorgungen nachteilig aus und kann dazu führen, daß diese Personengruppe - zu denen die Beschwerdeführer gehören - unter Umständen erst viele Jahre später eine Nachzahlung der ihnen eigentlich zustehenden Rentenbeträge erwarten kann.

    Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte hat die Zahl der Rentenleistungen aus Zusatzversorgungssystemen mit Anspruch auf Neuberechnung mit etwa 240.000 angegeben. Für diese Personen gab es nur zum Teil verläßliche Unterlagen. Zugleich ließen sich durch das vorläufige Verfahren Überzahlungen vermeiden, die bei einer anderen Berechnungsweise vorkommen konnten.

    Bei dieser Sachlage war es zu rechtfertigen, Zusatzversorgten eine dynamisierungsfähige monatliche Rente auf der Grundlage vorläufig festgelegter Entgeltpunkte zu gewähren. Denn bei einer nur vorläufig geltenden Regelung hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Herstellung einheitlicher rentenrechtlicher Verhältnisse einen weiten Gestaltungsspielraum.

    b) Zum anderen sind Bestandsrentner mit Ansprüchen aus der Sozialpflichtversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung gegenüber Zusatz- und Sonderversorgten hinsichtlich des Zahlbetragsschutzes besser gestellt. Aus der Vorschrift über den Zahlbetragsschutz folgt, daß die Renten der zuerst genannten Personengruppe von Beginn an dynamisch waren.

    Diese Benachteiligung der Zusatz- und Sonderversorgten ist gerechtfertigt, weil sie wirtschaftlich regelmäßig bessergestellt sind als alle anderen Versicherten aus dem Beitrittsgebiet. Der Gesetzgeber blieb innerhalb seines im Hinblick auf die Schwierigkeiten bei der Rechtsvereinheitlichung weit bemessenen Gestaltungsspielraums, als er davon ausging, daß Empfänger von Zusatz- oder Sonderversorgungen deshalb weniger schutzwürdig seien und ihnen eine ungünstigere Ausgestaltung des Zahlbetragsschutzes zuzumuten sei.

    Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß das BVerfG mit Urteil vom heutigen Tag (vgl. Pressemitteilung Nr. 48/99) entschieden hat, daß der durch den Einigungsvertrag garantierte Zahlbetrag jedenfalls für einen Teil der Bestandsrentner mit Ansprüchen aus Zusatz- oder Sonderversorgungssystemen ab 1. Januar 1992 an die Lohn- und Einkommensentwicklung anzupassen ist (Entscheidung mit 5:2 Stimmen).

III. Folgen der Entscheidung

  1. § 307b Abs. 1 SGB VI darf in dem beanstandeten Umfang nicht mehr angewendet werden. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung sind behördliche und gerichtliche Verfahren auszusetzen, soweit die Entscheidung von dem für verfassungswidrig erklärten Teil der Bestimmung abhängt.
  2. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich verpflichtet, bis zum 30. Juni 2001 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.

    Bestandskräftige, also nicht mehr anfechtbare Bescheide bleiben von dem Urteil unberührt, soweit sie den Rentenbezugszeitraum bis zum Inkrafttreten der Neuregelung betreffen. Es bleibt dem Gesetzgeber aber unbenommen, die Neuregelung auch für diesen Zeitraum auf bereits bestandskräftige Bescheide zu erstrecken; von Verfassungs wegen verpflichtet ist er hierzu jedoch nicht.