Bundesverfassungsgericht

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Ein einzelnes Bundesministerium kann nicht ermächtigt werden, Leitlinien im Sinne des § 7 Abs. 2a Atomgesetz zu erlassen

Pressemitteilung Nr. 57/1999 vom 19. Mai 1999

Beschluss vom 02. März 1999
2 BvF 1/94

Das Normenkontrollverfahren betraf die Frage, ob durch Gesetz auch ein einzelnes Bundesministerium ermächtigt werden kann, nähere Festlegungen für die Ausführung des Atomgesetzes durch die Länder bei der weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit im Zusammenhang mit der Genehmigung von Atomreaktoren zu treffen. Der Zweite Senat des BVerfG hat entschieden, daß eine solche Ermächtigung gegen Art. 85 Abs. 2 GG (Wortlaut s. Anlage) verstößt und nichtig ist. Entsprechende Verwaltungsvorschriften für die Auftragsverwaltung der Länder können nur von der Bundesregierung als Kollegium mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden.

I.

Die Niedersächsische Landesregierung hatte gegen die 1994 erfolgte Ergänzung des § 7 des Atomgesetzes (AtG) von 1985 um den Absatz 2a Normenkontrollklage erhoben.

Der Wortlaut des § 7 AtG ist in der Anlage auszugsweise beigefügt. Regelungszweck der Ergänzung von 1994 ist die nähere Festlegung der nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit durch bestimmte Ereignisse bei Leistungsreaktoren, die nach dem 31. Dezember 1993 genehmigt werden. Im Bundesrat hatte sich für eine Zustimmungsbedürftigkeit der Gesetzesänderung keine Mehrheit ergeben.

Die Niedersächsische Landesregierung hält die neue Regelung mangels Zustimmung des Bundesrates für mit dem GG unvereinbar und nichtig.

II.

Der Zweite Senat des BVerfG teilt im Ergebnis die Bedenken. Zwar bedurfte die Gesetzesänderung nicht der Zustimmung des Bundesrates; es durfte aber nur die Bundesregierung als Kollegium, nicht hingegen ein einzelnes Bundesministerium ermächtigt werden, Leitlinien im Sinne des § 7 Abs. 2a AtG mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen. Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Bei den in § 7 Abs. 2a AtG vorgesehenen Leitlinien handelt es sich um allgemeine Verwaltungsvorschriften gem. Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Leitlinien sind im Verhältnis von Bund und Ländern keine bloßen Empfehlungen, sondern bindende Rechtsakte für die Festlegung der Genehmigungsvoraussetzungen.

2. Allgemeine Verwaltungsvorschriften können nach dem Wortlaut des Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG ausschließlich von der Bundesregierung als Kollegium mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden. Diese Regelung ist strikt auszulegen. Der Bundesgesetzgeber ist daher nicht frei, abweichend hiervon einen anderen Ermächtigungsadressaten (z.B. ein einzelnes Bundesministerium) auszuwählen und dafür die Zustimmung des Bundesrates einzuholen. Wird nämlich das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrates auf das Gesetz selbst beschränkt, durch das ein einzelnes Bundesministerium ermächtigt wird, allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen, so haben die Länder keine Möglichkeit mehr, auf die damit verbundene nähere Ausgestaltung ihrer Wahrnehmungskompetenz über den Bundesrat einzuwirken. Der Bundesrat erteilte praktisch eine Blankettermächtigung, nämlich ohne Kenntnis und Bestimmung des konkreten Inhalts künftiger allgemeiner Verwaltungsvorschriften.

Zudem werden die Länder gem. § 7 Abs. 2a AtG nur durch Anhörung einer obersten Landesbehörde und damit nicht ordnungsgemäß beteiligt.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 57/99 vom 19. Mai 1999

Art. 85 Abs. 2 GG [Ausführung durch die Länder im Auftrage des Bundes (Bundesauftragsverwaltung)]

(2) Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Sie kann die einheitliche Ausbildung der Beamten und Angestellten regeln. Die Leiter der Mittelbehörden sind mit ihrem Einvernehmen zu bestellen.

§ 7 Atomgesetz
Genehmigung von Anlagen
B

(1) ...

(2) Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn

1. ...,

2. ...,

3. die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist,

4. - 6. ...

(2a) Bei Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen, die der Erzeugung von Elektrizität dienen, gilt Abs. 2 Nr. 3 mit der Maßgabe, daß zur weiteren Vorsorge gegen Risiken für die Allgemeinheit die Genehmigung nur erteilt werden darf, wenn auf Grund der Beschaffenheit und des Betriebs der Anlage auch Ereignisse, deren Eintritt durch die zu treffende Vorsorge gegen Schäden praktisch ausgeschlossen ist, einschneidende Maßnahmen zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen außerhalb des abgeschlossenen Geländes der Anlage nicht erforderlich machen würden; die bei der Auslegung der Anlage zugrunde zu legenden Ereignisse sind in Leitlinien näher zu bestimmen, die das für die kerntechnische Sicherheit und den Strahlenschutz zuständige Bundesministerium nach Anhörung der zuständigen obersten Landesbehörden im Bundesanzeiger veröffentlicht. Satz 1 gilt nicht für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, für die bis zum 31. Dezember 1993 eine Genehmigung oder Teilgenehmigung erteilt worden ist, sowie für wesentliche Ver-änderungen dieser Anlagen oder ihres Betriebes.

(3) bis (6) ...