Bundesverfassungsgericht

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Bei dem Ausgleich oder der Abfindung für Aktionäre darf der Börsenkurs der Aktien nicht außer Betracht bleiben

Pressemitteilung Nr. 84/1999 vom 10. August 1999

Beschluss vom 27. April 1999
1 BvR 1613/94

Der Erste Senat des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren entschieden, daß es mit der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) unvereinbar ist, bei der Bestimmung der Abfindung oder des Ausgleichs für außenstehende oder ausgeschiedene Aktionäre den Börsenkurs der Aktien außer Betracht zu lassen.

Eine solche Wertbestimmung ist erforderlich, wenn Aktionären im Fall der "Übernahme" eines Unternehmens oder seiner Eingliederung in ein anderes Unternehmen ein Ausgleich bzw. eine Abfindung zu gewähren ist.

Nach der bisherigen Rechtsprechung der Fachgerichte errechnete sich die Entschädigung allein nach dem Ertragswert des "übernommenen"/eingegliederten Unternehmens. Der Aktienbörsenkurs blieb außer Betracht.

I.

  1. Nach den Vorschriften des Aktiengesetzes (AktG) sind Minderheitsaktionäre in folgenden Fällen zu entschädigen:

    - Eine Aktiengesellschaft unterstellt die Leitung ihrer Gesellschaft einem anderen Unternehmen und/oder verpflichtet sich, ihren Gewinn abzuführen. Dies geschieht regelmäßig durch einen sogenannten Unternehmensvertrag. "Außenstehenden" Minderheitsaktionären ist dann für die aufgrund der Gewinnabführungsverpflichtung weggefallene Dividende ein Ausgleich durch "neue" Aktien oder eine Barabfindung zu gewähren.

    - Ein Unternehmen wird in eine Hauptgesellschaft, bei der sich mindestens 95% des Grundkapitals befindet, eingegliedert. Die Minderheitsaktien gehen auf die Hauptgesellschaft über.

    Den ausgeschiedenen Minderheitsaktionären steht ein Anspruch auf Abfindung zu. Dieser Anspruch richtet sich entweder auf Aktien der Hauptgesellschaft oder eine Barabfindung.

    Sofern Streit über die Angemessenheit der Entschädigung besteht, können die Minderheitsaktionäre diese Frage in einem sogenannten Spruchstellenverfahren gerichtlich bestimmen lassen.

  2. 1988 schloß die Deutsch-Atlantische Telegraphen-Aktiengesellschaft (DAT AG) mit ihrer Hauptaktionärin, der Altana AG, einen Unternehmensvertrag ab. Nachdem die Altana AG ihren Aktienbesitz an der DAT AG auf 95% gesteigert hatte, kam es zur Eingliederung.

    Eine "außenstehende" bzw. nach der Eingliederung "ausgeschiedene" Minderheitsaktionärin der früheren DAT AG hielt die ihr gewährte Entschädigung für den Aktienverlust für unangemessen niedrig und strengte ein Spruchstellenverfahren an. Sie blieb erfolglos. In letzter Instanz stellte das Oberlandesgericht (OLG) 1994 fest, daß die Entschädigung auf der Grundlage des Werts der beteiligten Unternehmen angemessen sei. Der Börsenkurs sei insoweit unbeachtlich.

    Hiergegen erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde und rügte insbesondere eine Verletzung der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Das OLG habe es in verfassungswidriger Weise unterlassen, bei der Bestimmung der angemessenen Abfindung den Börsenkurs der DAT AG zu berücksichtigen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Der Erste Senat hat die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Zum Schutzbereich der Eigentumsgarantie gehört auch das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum.

Der Senat führt aus, daß zwar die Vorschriften des AktG über einen Ausgleich und eine angemessene Abfindung von Minderheitsaktionären als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art. 14 Abs. 1 GG mit dem GG vereinbar sind. Dies gilt jedoch nicht für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften durch das OLG.

  1. Eine von Art. 14 Abs. 1 GG geforderte "volle" Entschädigung darf jedenfalls nicht unter dem Verkehrswert liegen.

    Der Ausgleich für außenstehende Aktionäre muß vielmehr so bemessen sein, daß sie auch künftig solche Renditen erhalten, die sie erhalten hätten, wenn der Unternehmensvertrag nicht geschlossen worden wäre; die Höhe der Abfindung muß gewährleisten, daß die Minderheitsaktionäre den Gegenwert ihrer Gesellschaftsbeteiligung erhalten. Darüber hinaus muß die Abfindung so bemessen sein, daß die Minderheitsaktionäre jedenfalls nicht weniger erhalten, als sie bei einer freien Deinvestitionsentscheidung zum Zeitpunkt des Unternehmensvertrags oder der Eingliederung erlangt hätten.

  2. In der Praxis hat sich für die Bestimmung der angemessenen Abfindung und des angemessenen Ausgleichs die sogenannte Ertragswertmethode durchgesetzt, bei der auf der Grundlage vorhandener Daten prognostiziert wird, wie sich der Ertrag eines Unternehmens in Zukunft entwickeln wird.

    Hiergegen bestehen im Prinzip keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Allerdings darf der Börsenkurs dabei nicht völlig außer Betracht bleiben. Das Aktieneigentum ist nicht zuletzt durch seine Verkehrsfähigkeit geprägt. Das gilt vor allem für die börsennotierte Aktie. Sie wird an der Börse gehandelt und erfährt dort aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage eine Wertbestimmung, an der sich die Aktionäre bei ihren Investitionsentscheidungen orientieren. Insbesondere Kleinaktionären, die regelmäßig nicht über alle relevanten Informationen verfügen, steht kein anderer Maßstab zur Verfügung, an dem sie den Wert dieses spezifischen Eigentumsobjekts messen könnten.

    Der Vermögensverlust, den der Minderheitsaktionär durch den Unternehmensvertrag oder die Eingliederung erleidet, stellt sich für ihn als Verlust des Verkehrswerts der Aktie dar. Dieser ist mit dem Börsenkurs der Aktie regelmäßig identisch. Da der Verkehrswert aber die Untergrenze der "wirtschaftlich vollen Entschädigung" bildet, die Art. 14 Abs. 1 GG für die Entwertung oder Aufgabe der Anteilsrechte fordert, steht es mit diesem Grundrecht grundsätzlich (s. u. Ziffer 3.) nicht in Einklang, im aktienrechtlichen Spruchstellenverfahren einen Ausgleich oder eine Barabfindung festzusetzen, die niedriger ist als der Börsenkurs. Sonst erhielten die Minderheitsaktionäre für ihre Aktien weniger, als sie ohne die zur Entschädigung verpflichtende Intervention des Mehrheitsaktionärs bei einem Verkauf erlöst hätten.

  3. Das Gebot, bei der Festsetzung der angemessenen Entschädigung den Börsenkurs zu berücksichtigen, bedeutet nicht, daß er stets allein maßgeblich sein müsse. Eine Überschreitung ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Es kann aber auch verfassungsrechtlich beachtliche Gründe geben, ihn zu unterschreiten. Da Art. 14 Abs. 1 GG keine Entschädigung zum Börsenkurs, sondern zum "wahren" Wert, mindestens aber zum Verkehrswert verlangt, kommt eine Unterschreitung dann in Betracht, wenn der Börsenkurs ausnahmsweise nicht den Verkehrswert der Aktie widerspiegelt. Das kann etwa der Fall sein, wenn längere Zeit praktisch überhaupt kein Handel mit den Aktien der Gesellschaft stattgefunden hat.
  4. Die angegriffenen Entscheidungen halten den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht stand, soweit das OLG eine Berücksichtigung des Börsenkurses der DAT AG aus prinzipiellen Gründen abgelehnt hat. Die Beschlüsse beruhen auch auf der Nichtberücksichtigung des Börsenkurses. Es ist nicht auszuschließen, daß das OLG bei einer Orientierung an den Anforderungen von Art. 14 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis gelangt.