Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Berufsordnung der Rechtsanwälte ist im Hinblick auf die Beantragung eines Versäumnisurteils nichtig

Pressemitteilung Nr. 139/1999 vom 14. Dezember 1999

Urteil vom 14. Dezember 1999
1 BvR 1327/98

Der Erste Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. November 1999 entschieden:

§ 13 der Berufsordnung der Rechtsanwälte vom 10. Dezember 1996 (BORA) ist mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) unvereinbar und nichtig. Die Vorschrift regelt, unter welchen Voraussetzungen im zivilrechtlichen Verfahren ein Rechtsanwalt ein Versäumnisurteil erwirken darf, wenn der Rechtsanwalt der Gegenseite zur Verhandlung nicht erscheint. Für diese Vorschrift fehlt es in § 59 b Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage.

I.

Der Beschwerdeführer (Bf) ist Rechtsanwalt. Auf der Grundlage des § 13 BORA hatte ihm die Rechtsanwaltskammer Koblenz eine Rüge erteilt, weil er in einem Zivilverfahren gegen einen anwaltlich vertretenen Beklagten ein Versäumnisurteil erwirkt hat. Der Beklagte und sein Vertreter waren im Termin nicht erschienen.

§ 13 BORA lautet: "Der Rechtsanwalt darf bei anwaltlicher Vertretung der Gegenseite ein Versäumnisurteil nur erwirken, wenn er dies zuvor dem Gegenanwalt angekündigt hat; wenn es die Interessen des Mandanten erfordern, darf er den Antrag ohne Ankündigung stellen."

Das Anwaltsgericht wies den Antrag des Bf auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück. Daraufhin erhob der Bf Verfassungsbeschwerde (Vb) und rügte eine Verletzung seiner Berufsfreiheit.

II.

Der Erste Senat hat entschieden, daß § 13 BORA nichtig ist. Diese berufsrechtliche Vorschrift wird von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt.

1. Zwar bestehen grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß öffentlichrechtliche Berufsverbände ihre Berufsausübung durch Satzungen regeln. Hierfür bedarf es jedoch einer gesetzlichen Ermächtigung. Der Gesetzgeber muß die Kompetenzen des Satzungsgebers insbesondere dann deutlich vorgeben, wenn Interessen Dritter oder der Allgemeinheit berührt werden. Denn verbandsinterne Regelungen, die in fremde Befugnisse eingreifen oder gesetzlich geregelte Verfahren beeinflussen, können für Dritte nachteilig sein oder Allgemeinwohlbelange beeinträchtigen. Insoweit birgt eine Rechtsetzung durch Berufsverbände besondere Gefahren in sich, da sie sich bei der Schaffung von Satzungsrecht typischerweise von Verbandsinteressen leiten lassen.

Gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Satzung (= BORA) ist die BRAO. Dieser läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß die Handlungsspielräume der Prozeßparteien durch Satzungsrecht eingeengt werden dürfen. Generell hat zwar die Satzungsversammlung nach § 59b BRAO das Recht, kollegiale Verhaltenspflichten und Berufspflichten gegenüber Mandanten zu normieren. Die Grenze ist jedoch dort erreicht, wo die Kollegialität bei Dritten zu nicht unerheblichen Beeinträchtigungen führt. So liegt es hier. Denn die Zivilprozeßordnung räumt der Prozeßpartei das Recht ein, bei Säumnis der Gegenseite ein vollstreckbares Versäumnisurteil zu erwirken. Hierauf muß sie nach § 13 BORA verzichten, wenn der Antrag auf Versäumnisurteil der anwaltlich vertretenen Gegenseite nicht angekündigt worden ist. Die Prozeßpartei erleidet dadurch typischerweise eine Vermögensgefährdung oder -einbuße, der regelmäßig auf ihrer Seite keine Vorteile gegenüberstehen. Diese Modifizierung zivilprozessualer Rechte und Pflichten nützt daher im allgemeinen nicht dem einzelnen Mandanten, sondern der Anwaltschaft. In der Bundesrechtsanwaltsordnung gibt es aber keine Hinweise dafür, daß das autonom gesetzte Berufsrecht ein Abweichen von den jeweiligen Prozeßordnungen erlauben könnte, wenn die Parteien durch Rechtsanwälte vertreten sind. Die Bundesrechtsanwaltsordnung setzt vielmehr voraus, daß die Interessen der Mandanten in dem Umfang, wie sie durch die Prozeßordnungen und das materielle Recht ausgeformt sind, vom Rechtsanwalt wahrgenommen werden. Ihn trifft zuvörderst die Pflicht, alles zu tun, was im Rahmen seines Auftrags zugunsten des Mandanten möglich ist. Schon deshalb bedürfte es einer ausdrücklichen und klaren gesetzlichen Grundlage, wenn die Satzungsversammlung ermächtigt sein sollte, Vorschriften zur Stärkung der Kollegialität so auszugestalten, daß die primären Verpflichtungen aus dem Mandantenvertrag zurückgedrängt oder abgeschwächt werden. Eine solche Ermächtigung ist aus dem Wortlaut und dem Regelungszusammenhang der Bundesrechtsanwaltsordnung nicht zu entnehmen.

2. Die Satzungsversammlung hat mit § 13 BORA zugleich den sogenannten Vorrang des Gesetzes mißachtet. Solange der Bundesgesetzgeber die Zivilprozeßordnung nicht dahin einschränkt, daß der Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils gegenüber dem Gegner eine Ankündigung voraussetzt, besteht eine solche Pflicht nicht. Den untergesetzlichen Normen des Berufsrechts fehlt die Kraft zur inhaltlichen Änderung der Zivilprozeßordnung.