Bundesverfassungsgericht

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Die Beschädigtengrundrente für die Kriegsopfer in den neuen Ländern darf ab 1. Januar 1999 nicht mehr niedriger sein als für die Kriegsopfer in den alten Ländern

Pressemitteilung Nr. 29/2000 vom 14. März 2000

Urteil vom 14. März 2000
1 BvR 284/96

Bei den Verfassungsbeschwerde (Vb)- Verfahren geht es um die Frage, ob es mit Art. 3 GG vereinbar ist, dass Kriegsbeschädigte des Zweiten Weltkriegs, die am 18. Mai 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ansässig waren, bis heute eine niedrigere Grundrente und einen niedrigeren Pauschbetrag für Kleider- und Wäscheverschleiß (Kleiderverschleißpauschale) erhalten als die Beschädigten, die zu diesem Zeitpunkt im Bundesgebiet oder im westlichen Ausland lebten.

Der Erste Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. November 1999 entschieden:

Es ist mit dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, dass die den Kriegsopfern nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährte Beschädigtengrundrente in den alten und neuen Ländern über den 31. Dezember 1998 hinaus bei gleicher Beschädigung ungleich hoch ist. § 84 a BVG (Wortlaut siehe Anlage), auf dem diese unterschiedliche Behandlung beruht, ist ab 1. Januar 1999 nichtig. Dagegen bleibt es im Fall der Kleiderverschleißpauschale bei der unterschiedlichen Höhe der Leistungen.

I.

1. Das 1950 erlassene BVG hat für die Bundesrepublik eine umfassende Rechtsgrundlage für staatliche Leistungen an die Opfer der beiden Weltkriege geschaffen. Es sieht unter anderem in § 31 Abs. 1 Satz 1 vor, dass eine so genannte Grundrente gewährt wird, deren Höhe sich nach dem Ausmaß der schädigungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet. Die Rente wird unabhängig vom Einkommen und Vermögen des Geschädigten gewährt. Sie entschädigt für die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und soll Mehraufwendungen ausgleichen, die den Beschädigten trotz der zahlreichen Einzelhilfen nach den §§ 11 bis 15 BVG noch verbleiben. Weiter wird eine Kleiderverschleißpauschale nach § 15 BVG unabhängig vom Einkommen gewährt.

Anders als die Bundesrepublik Deutschland kannte die Deutsche Demokratische Republik kein eigenständiges Recht der Kriegsopferversorgung. Den Kriegsbeschädigten wurden Leistungen durch die Sozialversicherung gewährt. Wenige Kriegsopfer erhielten Leistungen. Die Zahl der Berechtigten wird für das Frühjahr 1990 einschließlich der Hinterbliebenen auf etwa 5.000 Personen geschätzt. In der Bundesrepublik erhielten zu diesem Zeitpunkt 618.433 Kriegsopfer eine Beschädigtengrundrente.

2. Mit dem 1. Januar 1991 wurden die Leistungen nach dem BVG auf das Gebiet der ehemaligen DDR (Beitrittsgebiet) erstreckt. Während die Sachleistungen der Heil- und Krankenbehandlung sowie der Kriegsopferfürsorge den Berechtigten in den neuen Ländern in gleichem Umfang wie in den alten gewährt wurden, hat der Gesetzgeber für Renten und sonstige Geldleistungen eine besondere Regelung geschaffen, die durch Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt II des Einigungsvertrages als § 84 a in das BVG eingefügt wurde.

Die Regelung bewirkt, dass die unterschiedlichen Einkommen der Rentenversicherten in den alten und neuen Ländern und deren Entwicklung in die Berechnung der Grundrenten für Kriegsopfer einfließen. Steigen die Nettolöhne im Osten schneller als im Westen, steigt die Standardrente (als fiktive Größe). Der Anpassungsprozess bei den Geldleistungen der Kriegsopferversorgung wird dadurch beschleunigt. Aufgrund dieses Berechnungssystems waren die Grundrenten Ost 1991 noch um 54 % niedriger als die Grundrenten West. Am 1. Juli 1999 haben sie 86,71 % der Westrenten erreicht.

3. Die Bf waren Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Sie haben schwere Verletzungen erlitten. Am 18. Mai 1990, dem maßgeblichen Stichtag, lebten sie in der DDR. Sie verlangen gleichhohe Grundrenten und Kleiderverschleißpauschalen wie die Kriegsopfer im Westen Deutschlands. Ihre Klagen vor den Sozialgerichten blieben erfolglos.

II.

Das BVerfG hat entschieden, dass die durch § 84 a BVG bewirkte Schlechterstellung der versorgungsberechtigten Kriegsopfer Ost bei Inkrafttreten des BVG in den neuen Ländern und in den folgenden Jahren zunächst verfassungsgemäß war, seit dem 1. Januar 1999 aber nicht mehr mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Die Mehrheit des Senates leitet dieses Ergebnis aus dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG, eine Minderheit aus dem Verbot einer Benachteiligung der Bf wegen ihrer Heimat gemäß Art. 3 Abs. 3 GG ab. Die Minderheitsauffassung ist in einem Sondervotum niedergelegt.

1. Der Gesetzgeber war 1990/1991, als er die Leistungen nach dem BVG auf das Beitrittsgebiet erstreckt hat, von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, bestimmte Geldleistungen den Berechtigten in den neuen Ländern sofort auf dem gleichen Niveau wie in den alten Ländern zu gewähren. Er hatte bei der Bemessung der Geldleistungen einen weiten Spielraum, weil im Zuge der Wiedervereinigung große finanzielle Lasten auf die öffentlichen Haushalte zukamen. Es genügte den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn er durch geeignete Regelungen sicherstellte, dass die durch § 84 a BVG bewirkte Ungleichbehandlung der Kriegsopfer Ost und West nicht auf Dauer angelegt war. Das ist zunächst geschehen. Bei den laufenden Versorgungsleistungen sollte die durch § 84 a BVG vorgenommene Verknüpfung der Höhe von Grundrente und Kleiderverschleißpauschale mit der Entwicklung der Nettolöhne für eine zügige Anpassung sorgen.

2. Spätestens seit 1998 ist es für den Gesetzgeber jedoch erkennbar gewesen, dass die Geldleistungen der Kriegsopferversorgung Ost das Leistungsniveau im Westen in absehbarer Zeit nicht erreichen würden. Der Anpassungsprozess hatte sich seit 1997 deutlich verlangsamt. Nach 1997 betrug die Steigerung der Geldleistungen des BVG nur noch durchschnittlich etwa 0,5 %. Eine Gleichstellung der Kriegsopfer in den alten und neuen Ländern ist bis auf weiteres nicht mehr abzusehen. Die Kriegsopfer in den neuen Ländern müssen deshalb aufgrund ihres Lebensalters damit rechnen, dass sie gleichhohe Renten wie im Westen nicht erleben werden. Damit wird für sie die durch § 84 a BVG nur auf Zeit angestrebte Ungleichbehandlung zu einer Ungleichbehandlung auf Dauer. Dies aber ist nach Auffassung des Gerichts wegen der Besonderheit der Grundrente mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Die Grundrente für Beschädigte ist eine Leistung eigener Art. Im Vordergrund steht die Entschädigung für die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität. Sie wird stark von ihrem ideellen Gehalt geprägt (Genugtuungsfunktion). Nach Auffassung des Gerichts ist es im Hinblick auf das grundgesetzliche Gleichheitsgebot nicht zu rechtfertigen, dass diese Grundrente einem Kriegsbeschädigten aus den neuen Ländern auf Dauer in geringerem Umfang zugute kommt, obgleich sein Opfer im gleichen Krieg für den gleichen Staat erbracht wurde.

Finanzwirtschaftliche Belange können einer Gleichstellung der Kriegsopfer Ost und West in Bezug auf die Grundrente nicht entgegenstehen. Der Mehraufwand einer Gleichstellung bei der Beschädigtengrundrente erfordert einen Betrag von rund 35 Millionen jährlich bei einer Zahl von 60.417 Empfängern. Dieser Mehraufwand entspricht etwa 1 % der Gesamtausgaben des Bundes für alle Leistungen der Kriegsopferversorgung ohne Kriegsopferfürsorge im Jahre 1998.

3. Der Gleichheitssatz ist nicht in Bezug auf andere Leistungen nach dem BVG und insbesondere nicht bei der rein materiell ausgerichteten Kleiderverschleißpauschale verletzt. Das Gericht hebt hervor, dass die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG wesentlich auch darin begründet ist, dass eine Beendigung der durch § 84 a BVG bewirkten Ungleichbehandlung bei der Grundrente für die betroffenen Kriegsopfer mit Rücksicht auf ihr Lebensalter nicht mehr in Sicht ist. Dies unterscheidet den vom Gericht entschiedenen Fall von anderen staatlichen Leistungen mit immateriellen Gehalt.

III.

Das Gericht hat weiter entschieden, dass die Grundbeschädigtenrente der Kriegsopfer Ost bereits ab dem 1. Januar 1999 wegen der Nichtigkeit des § 84 a BVG nach Maßgabe der Entscheidung auf Antrag anzupassen ist.

Karlsruhe, den 14. März 2000

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 29/2000 vom 14. März 2000

Bundesversorgungsgesetz

§ 84 a

Berechtigte, die am 18. Mai 1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet hatten, erhalten vom Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, frühestens vom 1. Januar 1991 an, Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz mit den für dieses Gebiet nach dem Einigungsvertrag geltenden Maßgaben, auch wenn sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in das Gebiet verlegen, in dem dieses Gesetz schon vor dem Beitritt gegolten hat. Satz 1 gilt entsprechend für Deutsche und deutsche Volkszugehörige aus den in § 1 der Auslandsversorgungsverordnung genannten Staaten, die nach dem 18. Mai 1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet begründet haben.

Einigungsvertrag

Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt 3 Nr. 1 Buchstabe a

Bundesrecht tritt in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet mit folgenden Maßgaben in Kraft:

1. Bundesversorgungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 (BGBl. I S. 21), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1211), mit folgenden Maßgaben:

a) Die in den §§ 14, 15, 26 c Abs. 6, § 31 Abs. 1 und 5, § 32 Abs. 2, § 33 a Abs. 1, § 35 Abs. 1, § 36 Abs. 1 und 3, §§ 40, 40 b Abs. 3, § 41 Abs. 2, §§ 46, 47 Abs. 1, § 51 Abs. 1 bis 3 und § 53 in der jeweils geltenden Fassung genannten Deutsche Mark-Beträge sind mit dem Vomhundertsatz zu multiplizieren, der sich aus dem jeweiligen Verhältnis der verfügbaren Standardrente (§ 68 Abs. 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet zur verfügbaren Standardrente in dem Gebiet, in dem das Bundesversorgungsgesetz schon vor dem Beitritt gegolten hat, ergibt... Der in § 15 Satz 2 genannte Multiplikator ist ebenfalls mit dem in Satz 1 genannten Vomhundertsatz zu multiplizieren...

Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung gibt den maßgebenden Vomhundertsatz und den Veränderungstermin jeweils im Bundesanzeiger bekannt.