Bundesverfassungsgericht

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Zum rechtsstaatlichen Grundsatz eines fairen Verfahrens und zum verfassungsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes bei nachlassgerichtlichen Genehmigungen

Pressemitteilung Nr. 30/2000 vom 15. März 2000

Beschluss vom 18. Januar 2000
1 BvR 321/96

Der Erste Senat des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren eine vom Rechtspfleger erteilte nachlassgerichtliche Genehmigung wegen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips aufgehoben und Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG), die zum Ausschluss des Rechtsweges führen können, für mit dem GG unvereinbar erklärt.

I.

1. Ist nach einem Erbfall die Person des Erben unbekannt, kann das Nachlassgericht einen Nachlasspfleger bestellen. Für bestimmte Geschäfte, insbesondere für Grundstücksgeschäfte, bedarf der Nachlasspfleger der Genehmigung des Nachlassgerichts. Die nachlassgerichtliche Genehmigung, für deren Erteilung grundsätzlich nicht der Richter, sondern der Rechtspfleger zuständig ist, wird wirksam, wenn der Nachlasspfleger sie dem Vertragspartner mitgeteilt hat. Nach der Regelung der §§ 55, 62, 75 FGG (Wortlaut siehe Anlage) kann die Genehmigung ab diesem Zeitpunkt weder vom Nachlassgericht noch im Beschwerdeweg von den Beschwerdegerichten abgeändert werden.

2. Die Beschwerdeführerin (Bf) ist eine von mehreren Erben der 1993 verstorbenen Frau W. Zur Ermittlung der Erben sowie zur Sicherung und Verwaltung des Nachlasses bestellte das Nachlassgericht einen Nachlasspfleger. Anschließend konnte der Großteil der Miterben, darunter die Bf, ausfindig gemacht werden. Eine Aufhebung der Nachlasspflegschaft erfolgte jedoch nicht.

Die Erblasserin W. war ihrerseits - zusammen mit zwei weiteren Personen - Mitglied einer nicht auseinander gesetzten Erbengemeinschaft gewesen, der ein Wohn- und Geschäftshaus in Schwerin gehörte. Eine der Schweriner Miterbinnen wollte im Wege der Erbauseinandersetzung das Eigentum an dem Hausgrundstück übernehmen und die übrigen Miterben auszahlen. Zur Bemessung der Abfindung legte sie ein von ihr in Auftrag gegebenes Wertgutachten vor, in dem der Verkehrswert des Grundstücks auf etwa 176.000 DM veranschlagt wurde. Die beiden Schweriner Miterbinnen und der für die Erben der Erblasserin W. handelnde Nachlasspfleger schlossen vor einem Notar einen entsprechenden Erbauseinandersetzungsvertrag. Der Rechtspfleger erteilte daraufhin die erforderliche nachlassgerichtliche Genehmigung, ohne zuvor die Bf und die sonstigen bekannten Erben der Frau W. zu beteiligen.

Die Bf erfuhr erst einige Wochen später von dem Grundstücksgeschäft, mit dem sie nicht einverstanden war. Die von ihr gegen die Genehmigung eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg, weil die Beschwerdegerichte davon ausgingen, dass die Genehmigung wirksam geworden sei und damit nach §§ 55, 62, 75 FGG nicht mehr abgeändert werden könne.

Mit ihrer Vb wandte sich die Bf gegen den Beschluss, mit dem das Nachlassgericht die Genehmigung erteilt hatte, sowie gegen die im Beschwerdeverfahren ergangenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts.

II.

Die Vb ist begründet. Der Erste Senat hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben und die §§ 62, 55 FGG für teilweise unvereinbar mit Art. 19 Abs. 4 GG (Rechtsweggarantie) erklärt.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Der Beschluss des Nachlassgerichts verletzt die Bf in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gewährleisteten Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren.

a) Dieses Grundrecht, nicht Art. 103 Abs. 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör), bildet den Prüfungsmaßstab, an dem die von dem Rechtspfleger ohne Anhörung der Bf getroffene Entscheidung zu messen ist. Aus der systematischen Stellung des Art. 103 Abs. 1 GG innerhalb des Grundgesetzes folgt, dass diese Verfassungsnorm Anspruch auf rechtliches Gehör nur in Verfahren vor dem Richter gewährt. Der Rechtspfleger entscheidet zwar innerhalb des ihm übertragenen Aufgabenkreises als "Gericht". Er ist aber kein Richter, weder im Sinne des Verfassungsrechts noch im Sinne des Gerichtsverfassungsrechts.

b) Zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens zählt das Recht auf ein faires Verfahren. Der Einzelne darf deshalb nicht zum bloßen Objekt staatlicher Entscheidung werden; ihm muss insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können. Dies setzt voraus, dass der Betroffene von dem Sachverhalt und dem Verfahren, in dem dieser verwertet werden soll, überhaupt Kenntnis erhält.

Diesen rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügt die angegriffene Entscheidung des Nachlassgerichts nicht. Gründe, die es gerechtfertigt hätten, vor Erlass der Entscheidung von einer Anhörung der Bf abzusehen, sind nicht ersichtlich. Eine vorherige Anhörung hätte weder den Zweck der Maßnahme vereitelt noch wäre die Entscheidung nach vorheriger Anhörung zu spät gekommen.

2. Die Regelung der §§ 62, 55 FGG, auf der die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts beruhen, ist mit Art. 19 Abs. 4 GG insoweit unvereinbar, als sie denjenigen, die von einer durch den Rechtspfleger getroffenen Entscheidung in ihren Rechten betroffen sind, jede Möglichkeit einer richterlichen Überprüfung dieser Entscheidung verwehrt.

Das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt. Akte des Rechtspflegers gehören zur öffentlichen Gewalt im Sinne dieser Regelung.

Soweit sie in Rechte des Bürgers eingreifen, müssen auch diese Akte vollständig der richterlichen Prüfung unterstellt werden können. Die Regelung der §§ 62, 55 FGG kann zur Folge haben, dass eine richterliche Überprüfung der Rechtspflegerentscheidung nicht stattfinden kann. Art. 19 Abs. 4 GG steht zwar - unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - Zugangserschwernissen nicht entgegen, verbietet aber in jedem Fall den vollständigen Rechtswegausschluss. Auch Belange der Rechtssicherheit können diesen nicht rechtfertigen.

3. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Hierfür stehen ihm unterschiedliche Möglichkeiten offen. So kann er etwa vom Rechtspfleger getroffene Entscheidungen aus dem Anwendungsbereich der §§ 62, 55 FGG herausnehmen und auf diese Weise eine richterliche Kontrolle der Entscheidung in der Beschwerdeinstanz ermöglichen. Er kann auch durch geeignete Regelungen dafür sorgen, dass in Fällen wie dem vorliegenden die zum faktischen Rechtswegausschluss führenden Rechtsfolgen der §§ 62, 55 FGG nicht eintreten, bevor den Betroffenen Gelegenheit gegeben worden ist, eine Überprüfung durch den Richter herbeizuführen. Dies könnte durch die Einführung eines Rechtsinstituts geschehen, das dem in der Rechtsprechung der Fachgerichte im Erbscheinsverfahren und im Verfahren zur Erteilung eines Testamentsvollstreckerzeugnisses seit langem anerkannten so genannten Vorbescheid entspricht. Hierbei handelt es sich um eine Zwischenentscheidung, mit der der Erlass der beabsichtigten Entscheidung angekündigt wird, wenn nicht innerhalb einer gesetzten Frist ein Rechtsmittel eingelegt wird. Ein solcher Vorbescheid wäre ein geeignetes Mittel, um in Fällen der vorliegenden Art die bestehende verfassungswidrige Lücke im Rechtsschutzsystem zu schließen.

Bis zu einer Neuregelung ist in Verfahren der vorliegenden Art der zuständige Rechtspfleger von Verfassungs wegen verpflichtet, vor Erlass einer in den Anwendungsbereich der §§ 62, 55 FGG fallenden Verfügung diese durch einen beschwerdefähigen Vorbescheid anzukündigen, wenn erkennbar ist, dass die beabsichtigte Entscheidung Rechte Dritter berührt, denen sonst der Rechtsweg gegen die Entscheidung selbst jedenfalls faktisch - versperrt wäre.

Karlsruhe, den 15. März 2000

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 30/2000 vom 15. März 2000

§ 55 FGG

Eine Verfügung, durch welche die Genehmigung zu einem Rechtsgeschäft erteilt oder verweigert wird, kann von dem Vormundschaftsgericht insoweit nicht mehr geändert werden, als die Genehmigung oder deren Verweigerung einem Dritten gegenüber wirksam geworden ist.

§ 62 FGG

Soweit eine Verfügung nach § 55 von dem Vormundschaftsgericht nicht mehr geändert werden kann, ist auch das Beschwerdegericht nicht berechtigt, sie zu ändern.

§ 75 FGG

Auf die Nachlaßpflegschaft finden die für Vormundschaftssachen geltenden Vorschriften dieses Gesetzes Anwendung. Unberührt bleiben die Vorschriften über die Zuständigkeit des Nachlaßgerichts; ... .