Bundesverfassungsgericht

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Zu den Grenzen der Pflicht von Grundstückseigentümern, Altlasten auf eigene Kosten zu sanieren

Pressemitteilung Nr. 76/2000 vom 7. Juni 2000

Beschluss vom 16. Februar 2000
1 BvR 242/91

Der Erste Senat des BVerfG hat auf zwei Verfassungsbeschwerden (Vb) von Grundstückseigentümern verwaltungsgerichtliche Entscheidungen aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an die Fachgerichte zurückverwiesen. Die Beschwerdeführer (Bf) waren als sogenannte Zustandsstörer verpflichtet worden, "Grundstücksaltlasten" auf ihre Kosten zu sanieren. Die Urteile verletzen die Bf in ihrem Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), weil sie im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine Erwägungen zur Begrenzung der Zustandsverantwortlichkeit enthalten, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen.

I.

1. Am 1. März 1999 trat das Bundes-Bodenschutzgesetz in Kraft. Nach diesem Gesetz sind neben dem Verursacher auch die Grundstückseigentümer (= Zustandsstörer) verpflichtet, mit Altlasten kontaminierte Grundstücke auf ihre Kosten so zu sanieren, dass dauerhaft keine Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für den einzelnen oder die Allgemeinheit entstehen. Vor Inkrafttreten dieses Gesetzes folgten die entsprechenden rechtlichen Regelungen im Wesentlichen aus dem Landesrecht. In Baden-Württemberg war das Polizeigesetz maßgeblich, wonach die zuständige Behörde, wenn die öffentliche Sicherheit durch den Zustand einer Sache bedroht oder gestört wird, ihre Maßnahmen gegenüber dem Eigentümer oder gegenüber demjenigen zu treffen hat, der die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt.

Entsprechendes galt für Bayern, wo sich die Zustandsverantwortlichkeit nach dem Landesstraf- und Verordnungsgesetz richtet.

2. Die Bf in dem einen Fall eine GmbH & Co KG und in dem anderen Fall die Mitglieder einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts sind jeweils Eigentümer von Grundstücken in Baden-Württemberg bzw. Bayern, auf denen Altlasten festgestellt wurden. Für deren Beseitigung nahmen die Behörden die Bf auf deren Kosten als "Zustandsstörer" in Anspruch. Klagen hiergegen blieben erfolglos.

Im Fall der Bf aus Baden-Württemberg wies in letzter Instand das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 14. Dezember 1990 die Beschwerde zurück, im Fall der Bf aus Bayern ließ der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 14. Januar 1999 die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil nicht zu.

Gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhoben die Bf Vb und rügten im Wesentlichen eine Verletzung ihrer Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG.

Die Bf zu 1. trug zur Begründung u.a. vor: Besonders in den Fällen, in denen der Eigentümer die Gefahrensituation weder mitverursacht habe noch sie ihm bei Erwerb des Grundstücks erkennbar gewesen sei, sei es unangemessen, den Grundstückseigentümer für die Folgen einer der Allgemeinheit zugute gekommenen Industrialisierung verantwortlich zu machen, ohne dass ihm konkrete, im Zusammenhang mit der Gefahrverursachung stehende Vorteile geblieben wären.

Die Bf zu 2. führten u.a. aus: Die Privatnützigkeit des Eigentums werde aufgehoben, wenn und soweit die Sanierungskosten im Verhältnis zum Wert der konkreten Sache unverhältnismäßig hoch seien und die Mehrbelastung jegliche wirtschaftliche Nutzung der Sache vereitele oder unzumutbar erschwere. Genau diese Situation der dauernden Verlustzufügung sei in ihrem Fall eingetreten.

II.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Bf in ihrem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.

Zur Begründung heißt es u.a.:

1. Verfassungsrechtlicher Maßstab

Die Gerichtsentscheidungen und die Vorschriften über die Zustandsverantwortlichkeit des Grundeigentümers berühren den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Den Behörden wird die Befugnis eingeräumt, den Eigentümer zur Gefahrenabwehr auf seine Kosten zu verpflichten. Der Gesetzestatbestand setzt auf Seiten des Zustandsverantwortlichen nur das gegenwärtige Eigentum an dem Grundstück, von dem die Gefahr ausgeht, voraus.

Weder die gesetzlichen Vorschriften der Länder Baden-Württemberg und Bayern über die Zustandsverantwortlichkeit, auf denen die Sanierungsanordnungen beruhen, noch die Verwaltungsakte selbst stellen eine Enteignung dar, sondern bestimmen grundsätzlich in zulässiger Weise Inhalt und Schranken des Eigentums. Sie sind daher an Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ("Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt") und an Abs. 2 ("Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.") zu messen. Der Gesetzgeber hat dabei die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Insbesondere ist er an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Eigentumsbindungen dürfen, gemessen am sozialen Bezug und an der sozialen Bedeutung des Eigentumsobjekts sowie im Hinblick auf den Regelungszweck, insbesondere nicht zu einer übermäßigen Belastung führen und den Eigentümer im vermögensrechtlichen Bereich unzumutbar treffen.

2. Anwendung des Maßstabs

Die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen genügen diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

a) Die Zustandsverantwortlichkeit findet in der Einwirkungsmöglichkeit auf die gefahrenverursachende Sache ihren legitimierenden Grund. Der Eigentümer kann überdies aus der Sache Nutzen ziehen. Daher begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, die Vorschriften über die Zustandsverantwortlichkeit dahingehend auszulegen, dass der Eigentümer eines Grundstücks allein wegen dieser Rechtsstellung verpflichtet werden kann, von dem Grundstück ausgehende Gefahren für die Gesundheit von Menschen oder für das Grundwasser zu beseitigen, auch wenn er die Gefahrenlage weder verursacht noch verschuldet hat.

Die Belastung des Eigentümers mit den gesamten Kosten der Sanierungsmaßnahme ist allerdings nicht gerechtfertigt, soweit sie dem Eigentümer nicht zumutbar ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Belastung des zustandsverantwortlichen Eigentümers angemessen zu berücksichtigen und mit den betroffenen Gemeinwohlbelangen abzuwägen.

Vor allem folgende Gesichtspunkte sind hierbei maßgeblich:

Ein Anhaltspunkt kann der Verkehrswert des Grundstücks nach Durchführung der Sanierung sein. Wird dieser Wert von den Kosten überschritten, entfällt in der Regel das Interesse des Eigentümers an einem künftigen privatnützigen Gebrauch des Grundstücks. Er kann darüber hinaus nicht einmal damit rechnen, die entstehenden Kosten durch Veräußerung des Grundstücks gedeckt zu erhalten. Das Eigentum kann damit für ihn gänzlich seinen Wert und Inhalt verlieren. Mehr als ein Anhaltspunkt kann der Verkehrswert allerdings unter anderem deshalb nicht sein, weil das individuelle Interesse des Eigentümers am Grundstück dessen Verkehrswert überschreiten kann.

Eine diese Grenzen überschreitende Belastung kann insbesondere dann unzumutbar sein, wenn die Gefahr, die von dem Grundstück ausgeht, aus Naturereignissen, aus der Allgemeinheit zuzurechnenden Ursachen oder von nicht nutzungsberechtigten Dritten herrührt.

Andererseits kann eine Kostenbelastung, die den Verkehrswert des sanierten Grundstücks übersteigt, dann zumutbar sein, wenn der Eigentümer das Risiko der entstandenen Gefahr bewusst in Kauf genommen hat. Denn das freiwillig übernommene Risiko mindert die Schutzwürdigkeit des Eigentümers.

Aber auch dann, wenn der Eigentümer in fahrlässiger Weise die Augen vor Risikoumständen verschlossen hat, kann dies dazu führen, dass eine Kostenbelastung über die Höhe des Verkehrswerts hinaus zumutbar ist. Für die Beurteilung der Zumutbarkeit kann der Grad der Fahrlässigkeit erheblich sein.

In Fällen, in denen eine Kostenbelastung über den Verkehrswert hinaus an sich zumutbar ist, kann sie nicht auf die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Eigentümers bezogen werden. Dem Eigentümer ist nicht zumutbar, unbegrenzt für die Sanierung einzustehen, das heißt auch mit Vermögen, das in keinem rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem sanierungsbedürftigen Grundstück steht.

Dagegen kann es zumutbar sein, Vermögen zur Sanierung einzusetzen, das zusammen mit dem sanierungsbedürftigen Grundstück eine funktionale Einheit darstellt, etwa wenn dieses Bestandteil eines land- oder forstwirtschaftlichen Betriebes oder sonstigen Unternehmens ist.

Aber auch der Zugriff auf dieses sonstige Vermögen darf nur unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen.

Schließlich kann die Inanspruchnahme des Zustandsverantwortlichen mit Sanierungskosten bis zur Höhe des Verkehrswertes in Fällen unzumutbar sein, in denen das zu sanierende Grundstück den wesentlichen Teil des Vermögens des Pflichtigen bildet und die Grundlage seiner privaten Lebensführung einschließlich seiner Familie darstellt.

b) Solange der Gesetzgeber, dem es nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG obliegt, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, die Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit nicht ausdrücklich regelt, haben die Behörden und Gerichte durch Auslegung und Anwendung der die Verantwortlichkeit und die Kostenpflicht begründenden Vorschriften sicherzustellen, dass die Belastung des Eigentümers das Maß des nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 GG Zulässigen nicht überschreitet.

Sie haben insbesondere anhand der vorstehend genannten Kriterien eine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügende Begrenzung der finanziellen Belastung des Grundeigentümers im Rahmen einer ausschließlich auf seine Zustandsverantwortlichkeit gestützten Altlastensanierung zu gewähren. Die Verwaltung muss bereits bei der Aktualisierung der Eigentumsbeschränkung und Zustandshaftung durch die Anordnung von Sanierungsmaßnahmen zugleich über die gegebenenfalls erforderliche Begrenzung der Kostenbelastung des Zustandsverantwortlichen entscheiden. Sind der Verwaltung die Gründe der Unzumutbarkeit im Zeitpunkt der Sanierungsanordnung nicht oder nicht vollständig bekannt, so dass über die Kostentragung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend entschieden werden kann, ist die Sanierungsverfügung mit dem Vorbehalt einer gesonderten Kostenentscheidung zu verbinden.

c) Im Verfahren der Bf zu 1. sind das Berufungsurteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg und der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben. Der Verwaltungsgerichtshof ist insbesondere von einer Begrenzung der Zustandsverantwortlichkeit erst bei Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz ausgegangen und hat deshalb in seinem Urteil die von Verfassungs wegen erforderlichen Feststellungen zum Verhältnis von Sanierungskosten und Grundstückswert nicht getroffen. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts enthält in der undifferenzierten Ablehnung jeder Begrenzung der Kostentragungspflicht bei Erwerb des Grundstücks in "fahrlässiger" Unkenntnis des Risikos eine Begründung, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht standhält.

Auch im Verfahren der Bf zu 2. sind beide angegriffenen Entscheidungen aufzuheben, weil sie keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Erwägungen zu den Grenzen der Zustandsverantwortlichkeit enthalten.

Beschluss vom 16. Februar 2000 - Az. 1 BvR 242/91 und 315/99 -

Karlsruhe, den 7. Juni 2000