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Regelungen über "Einmalzahlungen" sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar

Pressemitteilung Nr. 85/2000 vom 21. Juni 2000

Beschluss vom 24. Mai 2000
1 BvL 1/98

Der Erste Senat des BVerfG hat im Verfahrenskomplex "Einmalzahlungen" folgendes entschieden:

1. Es verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt (z.B. Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld) Beiträge zur Sozialversicherung zu erheben, ohne dass es bei der Berechnung von kurzfristigen Lohnersatzleistungen (insbesondere Arbeitslosengeld und Krankengeld) berücksichtigt wird.

Die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften sind mit dem GG unvereinbar.

2. Der Gesetzgeber hat bis Ende Juni 2001 eine verfassungskonforme Regelung zu erlassen.

Er kann wählen, ob er eine verfassungsgemäße Rechtslage auf der Beitragsseite durch eine Änderung der Beitragsbelastung von Einmalzahlungen oder auf der Leistungsseite durch Einbeziehung von Einmalzahlungen in die Bemessungsgrundlage kurzfristiger Lohnersatzleistungen herbeiführt. Die Entscheidung des Ersten Senats enthält insoweit keine Vorgaben.

Ergeht bis zu diesem Zeitpunkt keine gesetzliche Neuregelung, kann § 23a SGB IV nicht mehr als Grundlage für die Heranziehung von Einmalzahlungen zu Sozialversicherungsbeiträgen dienen.

3. Hinsichtlich noch anhängiger Verfahren gilt:

Der Gesetzgeber hat durch geeignete Regelungen sicherzustellen, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgelte bei den Lohnersatzleistungen berücksichtigt werden, über deren Gewährung für die Zeit nach dem 1. Januar 1997 noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist.

Wegen des Sachverhalts und der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 11. Januar 1995 wird auf die Pressemitteilung Nr. 80/2000 vom 15. Juni 2000 Bezug genommen.

Zur Begründung

Auch nach dem Inkrafttreten des Einmalzahlungsgesetzes im Dezember 1996 werden Versicherte mit gleich hoher Beitragsleistung umso stärker bei kurzfristigen Lohnersatzleistungen benachteiligt, je höher der Anteil ihres beitragspflichtigen einmalig gezahlten Arbeitsentgeltes am beitragspflichtigen Gesamtarbeitsentgelt ist. Demgegenüber werden die Versicherten bei den Lohnersatzleistungen umso stärker bevorzugt, je geringer der Anteil des beitragspflichtigen einmalig gezahlten Arbeitsentgeltes ist.

Für diese Ungleichbehandlung sind hinreichende sachliche Gründe nach wie vor nicht ersichtlich. Selbst wenn mittlerweile nur noch ein deutlich geringerer Teil der Arbeitnehmer einmalig gezahltes Arbeitsentgelt erhielte, bliebe der Gleichheitsverstoß bestehen. Auch dann wäre noch eine hinreichend große Zahl von Personen benachteiligt, die der Gesetzgeber auch bei Typisierungen nicht ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG außer Betracht lassen dürfte.

1. Arbeitslosengeld

Wenn es der Gesetzgeber dabei belässt, die Höhe der jeweiligen Lohnersatzleistung grundsätzlich an den beitragspflichtigen Arbeitsentgelten zu orientieren, so müssen alle beitragspflichtigen Arbeitsentgelte berücksichtigt werden. Das gilt unabhängig davon, wie der Gesetzgeber das konkrete Sicherungsziel bestimmt.

Der Gesetzgeber muss das beitragspflichtige einmalig gezahlte Arbeitsentgelt so berücksichtigen, dass Versicherte mit einem gleich hohen beitragspflichtigen Arbeitsentgelt auch mit einer gleich hohen Lohnersatzleistung rechnen können, wenn sich ihre Situation nur dadurch unterscheidet, dass einige von ihnen mehr, andere weniger und wieder andere überhaupt kein einmalig gezahltes Arbeitsentgelt erhalten haben.

2. Krankengeld/Übergangsgeld

Für die Bemessung des Krankengeldes gelten die gleichen Grundsätze. Der Gleichheitsverstoß wird nicht durch die Gewährung des zusätzlichen Krankengeldes nach § 47 a SGB X (Wortlaut s. Anlage) ausgeglichen. Die Vorschrift hat nach ihrer Auslegung durch die vorlegenden Gerichte praktisch keinen Anwendungsbereich. An der mangelnden Eignung dieser Regelung zur Behebung des Gleichheitsverstoßes ändert sich auch nichts, wenn diese Vorschrift als eine so genannte Gleichwohlgewährungsvorschrift interpretiert wird. Dient nach dieser Auslegung das zusätzliche Krankengeld der Absicherung eines trotz Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers arbeitsrechtlich bestehenden Anspruchs auf einmalig gezahltes Arbeitsentgelt, so wird gerade nicht der Arbeitsentgeltausfall wegen Arbeitsunfähigkeit abgedeckt. Vielmehr wird der Arbeitnehmer nur gegen die Zahlungsunwilligkeit des Arbeitgebers abgesichert und das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers der Krankenkasse auferlegt.

3. Folgen der Entscheidung

a) Die beanstandete Regelung des § 23a SGB IV kann längstens bis zum 30. Juni 2001 fortgelten. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt keine gesetzliche Neuregelung in Kraft getreten ist, kann § 23a SGB IV nicht mehr als Grundlage für die Heranziehung von Einmalzahlungen zu Sozialversicherungsbeiträgen dienen.

b) Der Gesetzgeber hat durch geeignete Regelungen sicherzustellen, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgelte bei den Lohnersatzleistungen berücksichtigt werden, soweit über deren Gewährung für die Zeit nach dem 1. Januar 1997 noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist. Dem Gesetzgeber bleibt es unbenommen, statt einer individuellen Neuberechnung der Altfälle die Bemessungsentgelte pauschal um 10% anzuheben. Denn um diesen Prozentsatz erhöhen sich im Durchschnitt die Lohnersatzleistungen bei Berücksichtigung einmalig gezahlter Arbeitsentgelte, wenn aufgrund der vorliegenden Informationen über die Lohnstruktur bei ganzjährigen Beschäftigungsverhältnissen davon ausgegangen wird, dass die Mehrzahl der Versicherten ein Weihnachts- und Urlaubsgeld erhält.

c) Über Leistungsanträge, die vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung neu gestellt werden, bzw. über alte Leistungsanträge, die bislang noch nicht entschieden worden sind, kann die Verwaltung vorläufig entscheiden. Die für verfassungswidrig erklärten leistungsrechtlichen Bemessungsvorschriften sind in die für die Zeit bis 30. Juni 2001 angeordnete Weitergeltungsanordnung nicht miteinbezogen.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 85/2000 vom 21. Juni 2000

§ 47a SGB V

Zusätzliches Krankengeld

Versicherte haben Anspruch auf zusätzliches Krankengeld, soweit allein wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit einmalig gezahltes Arbeitsentgelt ausfällt und nach § 23a des Vierten Buches beitragspflichtig gewesen wäre. Der Anspruch nach Satz 1 besteht nicht für den Teil des einmalig gezahlten Arbeitsentgelts, der vom Arbeitgeber wegen krankheitsbedingter Zeiten der Arbeitsunfähgikeit gekürzt worden ist oder nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz hätte gekürzt werden können.