Bundesverfassungsgericht

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Zur Zurechnung von Anwaltsverschulden im Asylverfahren

Pressemitteilung Nr. 90/2000 vom 7. Juli 2000

Beschluss vom 21. Juni 2000
2 BvR 1989/97

I.

1.

Der Beschwerdeführer (Bf), ein türkischer Kurde, hatte 1996 in Deutschland Asyl beantragt. Das Bundesamt lehnte seinen Antrag ab. Der vom Bf daraufhin beauftragte Rechtsanwalt ließ die Klagefrist gegen den ablehnenden Bescheid verstreichen. Nachdem der Bf dies erfahren hatte, beauftragte er einen anderen Rechtsanwalt, der gleichzeitig mit der Klageerhebung einen Wiedereinsetzungsantrag stellte.

Das Verwaltungsgericht (VG) wies die Klage als verspätet ab. Der Bf müsse sich das Verschulden des von ihm zunächst beauftragten Rechtsanwalts an der Fristversäumung zurechnen lassen. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) bestätigte diese Entscheidung. Die Gerichte bezogen sich zur Begründung auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahre 1982 (BVerfGE 60, 253). Das BVerfG hatte zu der damals geltenden Rechtslage entschieden, dass die Zurechnung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten an einer versäumten Frist auch im Asylverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Der grundgesetzlich geschützte Zugang zu den Gerichten werde dadurch auch im Hinblick auf die Besonderheiten des Asylverfahrens nicht unzumutbar eingeschränkt. Zwar könne der abgewiesene Asylbewerber sich bei seinem Bevollmächtigten für die Folgen einer Fristversäumung nicht in wirksamer Weise schadlos halten. Dies führe aber wegen des unabhängig von der Asylgewährung oder -versagung bestehenden Abschiebungsschutzes für politisch Verfolgte nicht zu schlechterdings unerträglichen Folgen wie grundsätzlich im Strafverfahren.

2.

Mit der Verfassungsbeschwerde (Vb) rügte der Bf unter anderem, die Zurechnung des Verschuldens seines früheren Rechtsanwalts verstoße insbesondere deshalb gegen die Verfassung, weil er nach dem neuen Asylverfahrensgesetz von 1992 keine Möglichkeit mehr habe, nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens noch Abschiebungsschutz zu erlangen. Nach dem nunmehr geltenden Recht habe der Bescheid des Bundesamtes nämlich neben der Ablehnung des Asylantrages auch die Feststellung zum Inhalt, dass keine Abschiebungshindernisse vorliegen.

II.

Die Kammer hat festgestellt, dass auch nach der neuen Rechtslage die Zurechnung des Anwaltsverschuldens im Asylverfahren nicht zu unerträglichen Ergebnissen führt. Sie hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen, dem Bf aber die Erstattung seiner Kosten zugesprochen.

Zwar ist die Entscheidung des Bundesamtes über zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse für die Ausländerbehörde verbindlich. Diese darf sich bei der Entscheidung über eine Duldung auch dann nicht mehr mit Gefahren für Leib oder Leben für den Asylbewerber in seinem Heimatstaat befassen, wenn der Bescheid des Bundesamtes nur wegen der Versäumung der Klagefrist durch den Rechtsanwalt bestandskräftig geworden ist. Auch kann der Asylbewerber deswegen keinen Asyl Folgeantrag beim Bundesamt stellen, weil dies nach dem Gesetz voraussetzt, dass neue Tatsachen im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Die Fristversäumung durch den Rechtsanwalt stellt aber keine derartige Tatsache dar.

Wie die Kammer unter Hinweis auf neuere Entscheidungen unter anderem des Bundesverwaltungsgerichts festgestellt hat, sind damit aber die Möglichkeiten eines abgelehnten Asylbewerbers, Abschiebungsschutz zu erlangen, noch nicht erschöpft. Denn die Entscheidung des Bundesamtes über Abschiebungshindernisse im Herkunftsstaat kann unter weniger strengen Voraussetzungen wieder aufgegriffen werden als diejenige über den Asylantrag, wie die Kammer näher ausführt. Sofern den Asylbewerber kein eigenes Verschulden an der Fristversäumnis trifft und begründete Bedenken an der Richtigkeit der früheren Ablehnung geltend gemacht werden, ist das Bundesamt verpflichtet, die Entscheidung über Abschiebungsschutz nach pflichtgemäßem Ermessen erneut zu treffen.

Damit kann der Bf jetzt, sofern das Bundesamt nicht von Amts wegen sein Verfahren wieder aufgreift, einen Wiederaufgreifensantrag stellen, damit das Bundesamt einen Zweitbescheid zum Vorliegen von Abschiebungshindernissen erlässt. Auf diese Weise kann er trotz der im Asylerstverfahren erfolgten Zurechnung des Verschuldens seines ehemaligen Bevollmächtigten zumindest Abschiebungsschutz gegebenenfalls im Wege gerichtlicher Nachprüfung erlangen.

Die Erwägungen, die das BVerfG 1982 veranlasst haben, die Zurechnung von Anwaltsverschulden auch im Asylverfahren noch für vertretbar zu halten, gelten im Ergebnis daher auch angesichts der neuen Rechtslage.

Beschluss vom 21. Juni 2000, Az. 2 BvR 1989/97

Unter Hinweis auf diesen Beschluss hat die Kammer eine Reihe weiterer vergleichbarer Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die zum Teil für eine Entscheidung durch den Senat vorgesehen waren (vgl. Arbeitsvorschau für das Jahr 2000, Zweiter Senat, Nr. 3).