Bundesverfassungsgericht

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Funktionszulage nur für Fraktionsvorsitzende zulässig

Pressemitteilung Nr. 98/2000 vom 21. Juli 2000

Urteil vom 21. Juli 2000, Urteil vom 21. Juli 2000
2 BvH 3/91
2 BvH 4/91

Bei den Landesorganstreitverfahren geht es um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit verschiedener Vorschriften über Abgeordnetendiäten.

Der von zwei ehemaligen Landtagsabgeordneten der Thüringer "Grünen" angestrengte Organstreit 2 BvH 3/91 hat die Gewährung von Einkommenszulagen an Abgeordnete mit besonderen parlamentarischen Funktionen zum Gegenstand. Das Verfahren 2 BvH 4/91 betrifft darüber hinaus weitere Vorschriften zur Entschädigung und Versorgung von Landtagsabgeordneten in Rheinland-Pfalz. Wegen der Einzelheiten wird auf die Pressemitteilung Nr. 51/2000 vom 18. April 2000 verwiesen, die auf Anfrage gern übersandt wird.

I.

Der Zweite Senat des BVerfG hat im Verfahren 2 BvH 3/91 auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 2. Mai 2000 entschieden, dass die Gewährung einer Funktionszulage an die Fraktionsvorsitzenden mit der Verfassung vereinbar ist. Entsprechende Zulagen für die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen und die Ausschussvorsitzenden verstoßen hingegen gegen die Freiheit des Mandats und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Abgeordneten.

Dazu führt der Senat u.a. aus:

1. Die gesetzliche Gewährung von zusätzlichen Entschädigungen für Abgeordnete mit besonderen Funktionen liegt im Rahmen der Parlamentsautonomie. Zum Recht des Parlaments, seine inneren Angelegenheiten zu regeln, gehört die Befugnis, sich selbst zu organisieren und sich dadurch in den Stand zu setzen, seine Aufgabe zu erfüllen.

Dabei unterliegen die einzelnen Regelungsgegenstände und Instrumente der Wandlung; dies ergibt sich aus den Veränderungen der Arbeitsbedingungen und der zunehmenden Komplexität der Regelungsbedürfnisse. Das moderne Parlament muss Strategien des arbeitsteiligen Zusammenwirkens und der Koordination der politischen Willensbildung entwickeln, will es seine Arbeitsfähigkeit nicht einbüßen.

Nicht nur der Ausbau von parlamentarischen Organisationsstrukturen, auch die Schaffung besonders zu entschädigender Funktionsstellen ist dem Binnenbereich parlamentarischer Organisation zuzurechnen. Denn die hierauf entfallenden Zusatzentschädigungen haben ihre Grundlage nicht im Abgeordnetenmandat, sondern in besonderen Wahl- und Bestellungsakten des Parlaments.

2. Die Befugnis des Parlaments, Funktionszulagen zu schaffen, wird aber begrenzt durch Art. 38 Abs. 1 GG, wonach allen Abgeordneten Freiheit in der Ausübung ihres Mandats und Gleichheit im Status als Vertreter des ganzen Volkes garantiert ist. Die formelle Gleichheit der Abgeordneten und die angemessene Entschädigung gemäß § 9 Abs. 4 der vorläufigen Landessatzung Thüringen und Art. 48 Abs. 3 GG sollen die Freiheit des Mandats gewährleisten. Die der Bedeutung des Amtes angemessene Entschädigung soll dem Abgeordneten ermöglichen, als Vertreter des ganzen Volkes frei von wirtschaftlichen Zwängen zu wirken. In der parlamentarischen Arbeit können jedoch zusätzliche Entschädigungen für einzelne Abgeordnete die Entscheidungsfreiheit aller Abgeordneten beeinträchtigen, wenn durch solche Zulagen die Gefahr entsteht, dass das parlamentarische Handeln am Leitbild einer "Abgeordnetenlaufbahn" und dem Erreichen einer höheren Einkommensstufe ausgerichtet wird. Zwar ist der einzelne Abgeordnete schon einem Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit seines Mandats und der Einordnung in die Fraktionsdisziplin ausgesetzt. Die daraus folgenden Abhängigkeiten von Fraktionsbeschlüssen sind im Rahmen funktioneller Differenzierung auch mit Blick auf Art. 21 GG hinzunehmen. Wird jedoch die Verteilung parlamentarischer Funktionen mit unterschiedlicher Dotierung der Abgeordneten verbunden, so entstehen zusätzliche Abhängigkeiten, die durch die Aufgaben des Abgeordneten innerhalb effektiv organisierter Parlamentsarbeit nicht gerechtfertigt werden, sondern hierzu in Widerspruch treten: Innerparlamentarische Einkommenshierarchien lassen es erstrebenswert erscheinen, parlamentarische Funktionen aus ökonomischen Gründen, unabhängig von individuellen politischen Intentionen und Kompetenzen zu übernehmen, auszuüben und gegenüber Konkurrenten zu behaupten.

3. Für den Ausgleich zwischen diesen beiden Verfassungsgütern lassen sich dem Grundgesetz nur Leitgesichtspunkte entnehmen. Einerseits ist zu berücksichtigen, dass das Parlament zeitgemäße Strukturen ausbilden können muss, die der Vielzahl, Bandbreite und Komplexität der Gegenstände parlamentarischer Gesetzgebung und Kontrolle Rechnung tragen. Das Gelingen einer wirksamen und rationalen parlamentarischen Arbeit setzt demgemäss besondere Qualifikationen demokratischer Führung, vor allem besondere Sach- und Verfahrenskunde sowie Fähigkeiten der Information, Kommunikation und des Vermittelns voraus. Dies spricht dafür, dass Funktionen geschaffen und unter bestimmten Voraussetzungen auch besonders honoriert werden können, mit deren Hilfe die politische Willensbildung koordiniert werden kann. Andererseits ist der Gefahr zu begegnen, dass durch die systematische Ausdehnung von Funktionszulagen "Abgeordnetenlaufbahnen" und Einkommenshierarchien geschaffen werden, die der Freiheit des Mandats abträglich sind. Funktionszulagen können darum zum einen nur in geringer Zahl vorgesehen werden und sind zum anderen auf besonders herausgehobene politisch- parlamentarische Funktionen zu begrenzen. Wird einer nur geringen Anzahl von Funktionsträgern eine zusätzliche Entschädigung gewährt, ist es wenig wahrscheinlich, dass sich der einzelne Abgeordnete bei der Ausübung seines Mandats an sachfremden Gesichtspunkten wie an zusätzlichen Einkommenschancen orientiert. Bei den zahlenmäßig begrenzten Spitzenpositionen im Parlament ist diese Gefahr gering zu veranschlagen. Eine breite Streuung der besonders zu entschädigenden Funktionsstellen verschärft hingegen nicht nur die dargestellte Gefahr, sie könnte auch die Bereitschaft gerade der einflussreichen, mit Funktionszulagen ausgestatteten Abgeordneten mindern, die reguläre Entschädigung angemessen den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen. Auch hierdurch würde die Freiheit des Mandats gefährdet.

4. Für den Thüringer Landtag bedeutet das: Die Schaffung einer Zulage für die Fraktionsvorsitzenden ist angesichts von deren politischer Bedeutung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wie der Zweite Senat näher ausführt. Die Regelungen über ergänzende Entschädigungen für die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, für die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen und die Ausschussvorsitzenden sind hingegen mit dem Verfassungsrecht unvereinbar. Sie verstoßen gegen die Freiheit des Mandats und den Grundsatz der Gleichbehandlung der Abgeordneten. Diese Funktionen sind nicht in gleicher Weise wie die des Fraktionsvorsitzenden politisch herausgehoben und in ihrer Zahl begrenzt. Insbesondere die Zahl der Ausschüsse übersteigt deutlich diejenige der Fraktionen und lässt sich zudem vergleichsweise einfach erhöhen. Die Schlussfolgerung, dass die Aussicht auf eine Erhöhung der Entschädigung keine ausschlaggebende oder doch bedeutsame Rolle für die Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats zu spielen vermag, lässt sich hier nicht mit der erforderlichen Sicherheit ziehen.

II.

In dem Verfahren 2 BvH 4/91 hat der Zweite Senat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 2. Mai 2000 die Anträge verworfen. Sie sind mittlerweile unzulässig. Dies folgt zum einen aus einer Verfassungsänderung in Rheinland-Pfalz, wonach seit dem 18. Mai 2000 Normenkontrollverfahren vor dem Landesverfassungsgericht auch von "anderen Beteiligten" als Verfassungsorganen angestrengt werden können. Diese Möglichkeit besteht für die Antragstellerin, wie der Zweite Senat ausführt, hinsichtlich eines Teil der von ihr angegriffenen Vorschriften. Hinsichtlich der anderen Vorschriften ist mittlerweile das Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin entfallen, da diese Normen aus dem Abgeordnetengesetz vom Landesgesetzgeber novelliert worden sind.

Karlsruhe, den 21. Juli 2000