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Zum Verhältnis von Kunstfreiheit und Urheberrecht - "Germania 3" von H. Müller

Pressemitteilung Nr. 100/2000 vom 25. Juli 2000

Beschluss vom 29. Juni 2000
1 BvR 825/98

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat das vom Oberlandesgericht (OLG) München ausgesprochene Verbot der Buchausgabe des Stückes "GERMANIA 3 Gespenster am toten Mann" von Heiner Müller aufgehoben und die Sache an das OLG München zurückverwiesen.

I.

Die Vb betrifft die Buchausgabe des letzten Theaterstückes des 1995 verstorbenen Dramatikers Heiner Müller. In der Szene "Maßnahme 1956" werden Passagen aus den Theaterstücken "Das Leben des Galilei" und "Coriolan" von Bertolt Brecht zitiert. Auf eine Klage von dessen Erben hatte das OLG 1998 die Verbreitung der Buchausgabe verboten, solange sie diese Passagen enthalte. Die Erben hatten die Erlaubnis zur wörtlichen Textwiedergabe nicht erteilt. Das OLG sah die Verwendung der Brecht'schen Passagen nicht als von der Zitierfreiheit (§ 51 UrhG; s. Anlage) gedeckt an. Voraussetzung hierfür sei, dass das Zitat eigene Gedanken des Zitierenden unterstütze oder - auch in der Abgrenzung - erläutere. Dies sei bei Heiner Müllers "GERMANIA 3" nicht der Fall. Die übernommenen Textteile seien nicht nur Hilfsmittel für die Zwecke des zitierenden Werkes, sie träten vielmehr an die Stelle eigener Darlegungen, ersetzten quasi eigene Ausführungen. Denke man die Brecht Texte hinweg, falle die betreffende Szene in sich zusammen.

II.

Auf die Verfassungsbeschwerde des Verlegers von Heiner Müllers Werken hat die Kammer diese Entscheidung aufgehoben, weil das OLG München Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) grundlegend verkannt hat.

Zur Begründung führt die Kammer u.a. sinngemäß aus:

Das OLG hätte sich bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Urheberrecht mit dem künstlerischen Anliegen Müllers auseinandersetzen müssen. Dies verlangt, die innere Verbindung der zitierten Stellen mit den Gedanken und Überlegungen des Zitierenden über die bloße Belegfunktion hinaus auch als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen. Insoweit sind Kunstwerke anders zu beurteilen als nicht künstlerische Sprachwerke. Mit der Veröffentlichung steht ein Werk nicht mehr allein seinem Inhaber zur Verfügung. Es tritt in den gesellschaftlichen Raum und kann damit zu einem eigenständigen, das kulturelle und geistige Bild der Zeit mitbestimmenden Faktor werden. Es löst sich mit der Zeit von der privatrechtlichen Verfügbarkeit und wird geistiges und kulturelles Allgemeingut. Das Werk kann um so stärker als Anknüpfungspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung dienen, je mehr es seine gewünschte gesellschaftliche Rolle erfüllt. Diese gesellschaftliche Einbindung der Kunst ist damit gleichzeitig Wirkungsvoraussetzung für sie und Ursache dafür, dass die Künstler in gewissem Maße Eingriffe in ihre Urheberrechte durch andere Künstler als Teil der sich mit dem Kunstwerk auseinander setzenden Gesellschaft hinzunehmen haben. Steht ein geringfügiger Eingriff in die Urheberrechte ohne die Gefahr merklicher wirtschaftlicher Nachteile der künstlerischen Entfaltungsfreiheit gegenüber, haben die Verwertungsinteressen der Urheberrechtsinhaber im Vergleich zu den Nutzungsinteressen für eine künstlerische Auseinandersetzung zurückzutreten.

Der Künstler darf urheberrechtlich geschützte Texte auch ohne einen Bezug als Beleg in sein Werk aufnehmen, soweit sie als solche Zustand- und Gestaltungsmittel seiner eigenen künstlerischen Aussage bleiben. Geht es ersichtlich darum, den fremden Autor (hier: Brecht) selbst als Person der Zeit und Geistesgeschichte kritisch zu würdigen, kann es ein von der Kunstfreiheit gedecktes Anliegen sein, diesen Autor, seine politische und moralische Haltung sowie die Intention und Wirkungsgeschichte seines Werkes dadurch zu kennzeichnen, dass er selbst durch Zitate zu Wort kommt. Ob das Zitat eine solche Würdigung und nicht bloß die Anreicherung eines Werkes durch fremdes geistiges Eigentum darstellt, ist auf Grund einer umfassenden Würdigung des gesamten Werkes zu ermitteln. Dies hat das OLG München nicht hinreichend getan, wie die Kammer weiter ausführt.

Karlsruhe, den 25. Juli 2000

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 99/2000 vom 25. Juli 2000

§ 51 Zitate

Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe, wenn in einem durch den Zweck gebotenen Umfang

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