Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Regelung über Zugang zur Krankenversicherung der Rentner verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 101/2000 vom 27. Juli 2000

Beschluss vom 15. März 2000
1 BvL 16/96

Der Erste Senat des BVerfG hat in den Verfahren zur Krankenversicherung der Rentner entschieden:

1. Es verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 des GG, dass Personen, die nach dem 31. Dezember 1993 einen Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gestellt haben, nur dann in der Krankenversicherung der Rentner pflichtversichert sind, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens 9/10 der zweiten Hälfte des Zeitraums auf Grund einer Pflichtversicherung versichert waren.

2. Die entsprechende gesetzliche Vorschrift kann bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis 31. März 2002, weiter angewendet werden.

3. Es verstößt gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, dass die ursprünglich geltende Übergangsregelung, wonach bis zum 31. Dezember 1993 die Halbbelegung als Zugangsvoraussetzung für die Krankenversicherung der Rentner ausreichte, nachträglich auf den 31. Dezember 1992 verkürzt worden ist. Die entsprechende Vorschrift ist mit Art. 2 Abs. 1 des GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar und nichtig.

Wegen des Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 99/2000 vom 24. Juli 2000 Bezug genommen.

Zur Begründung führt der Erste Senat u.a. sinngemäß aus:

1. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dadurch wird nicht jede Differenzierung, aber eine ungerechte Verschiedenbehandlung verboten.

Die mit den Vorlagebeschlüssen zur Prüfung vorgelegte Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 11 Halbsatz 1 SGB V führt zu einer Ungleichbehandlung zwischen zwei Gruppen von Rentnern, die beide während des größten Teils ihres Erwerbslebens Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung gezahlt haben. Jene, die mehr als 1/10 der zweiten Hälfte des Erwerbslebens wegen Überschreitung der Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht oder freiwillig versichert waren, können sich nach Stellung des Rentenantrags nur privat versichern oder in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichert sein.

Dies benachteiligt sie. Der Eintritt in eine private Krankenversicherung nach Erreichen des Rentenalters ist regelmäßig nur bei Zahlung relativ hoher Prämien möglich. Zudem können Privatversicherungen Vorerkrankungen aus dem Versicherungsschutz ausnehmen oder die Beiträge um Risikozuschläge erhöhen. Die betroffenen Arbeitnehmer sind daher im Rentenalter in der Regel auf den Verbleib in der gesetzlichen Krankenversicherung angewiesen. Dort werden sie jedoch mit höheren Beiträgen belastet, sobald sie neben ihrer Rente weiteres Einkommen haben.

Diese Ungleichbehandlung ist durch keinen hinreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt. Sie führt die während des Erwerbslebens durch die Jahresarbeitsentgeltgrenze bestimmte Trennung zwischen Pflichtversicherten und freiwillig Versicherten im Rentenalter fort, selbst wenn diese Grenze nur in einer relativ kurzen Zeitspanne überschritten worden ist.

Ein Anhaltspunkt für die Sachgerechtigkeit einer solchen Grenzziehung mit der Folge unterschiedlicher Beitragslast ist die Beachtung der Prinzipien, die den Gesetzgeber bei der Einrichtung der Pflichtversicherung insgesamt leiteten. Diese Gesichtspunkte sind einerseits die Schutzbedürftigkeit des Einzelnen, andererseits die Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft. Der Pflichtversicherung liegt der Gedanke zugrunde, dass Personen mit niedrigen Einkünften typischerweise eines Schutzes für den Fall der Krankheit bedürfen, der durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden soll. Wer über der Jahresarbeitsentgeltgrenze verdient, braucht diesen Schutz nicht mehr im gleichen Maße. Zudem schützt die Krankenversicherungspflicht die Allgemeinheit vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen.

Den Vorschriften über die freiwillige Versicherung in der Krankenversicherung liegt hingegen das Ziel zugrunde, diese für solche Personen zu öffnen, bei denen ein ähnliches, aber eingeschränktes Schutzbedürfnis besteht.

Diese Unterscheidung kann hinsichtlich der Mitgliedschaft im Rentenalter fortgesetzt werden, wenn und soweit sich das eingeschränkte Schutzbedürfnis im Rentenalter typischerweise fortsetzt oder sonst sachliche Gründe hierfür bestehen. Dies ist jedenfalls nicht schon dann der Fall, wenn jemand einige Jahre ein Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze erzielt hat, denn die daraus bezogene Rente liegt selbst nach 45 Versicherungsjahren mit Verdiensten oberhalb der Jahresarbeitsverdienstgrenze noch regelmäßig rund 2000 DM unter dieser Grenze.

Auch haben die Personen, die freiwillig krankenversichert waren, ihrerseits die Solidargemeinschaft unterstützt.

Wie sich aus den Berechnungen des Bundessozialgerichts (BSG) ergibt, kann schon eine freiwillige Versicherungszeit von zwei bis zweieinhalb Jahren ausreichen, um nicht mehr zugangsberechtigt zur Krankenversicherung der Rentner zu sein. Eine derart kurze Zeitspanne hat weder auf das typisierte Schutzbedürfnis noch auf die Beteiligung an der Solidargemeinschaft hinreichende Auswirkungen, um die Verweisung auf die freiwillige Krankenversicherung mit den damit einhergehenden massiven Beitragsnachteilen zu rechtfertigen. Dies gilt unabhängig davon, aus welchem Grund eine freiwillige Mitgliedschaft bestand, hängt also nicht vom Überschreiten der Jahresentgeltgrenze ab.

2. Für die erforderliche Neuregelung hat der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten. Er kann den Zugang zur Krankenversicherung der Rentner für jene öffnen, deren Versicherungsleben oder mindestens dessen zweite Hälfte maßgeblich oder überwiegend von der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung geprägt war, und zwar unabhängig davon, ob dies eine Pflichtmitgliedschaft oder eine freiwillige Mitgliedschaft war. Der Gesetzgeber kann aber auch die Beitragsregelungen für pflicht- und freiwillig versicherte Rentner angleichen. Er wird bei einer Neuregelung jedenfalls zu überprüfen haben, ob angesichts der sozialen und ökonomischen Veränderungen die Annahmen noch gültig sind, auf denen die bisherige Regelung aufbaut. Dies gilt insbesondere für die bisher aufgestellte Vermutung, dass Arbeitnehmer mit einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze typischerweise mehr Vermögen bilden können als solche, die ihr ganzes Leben pflichtversichert waren. Angesichts des insgesamt geringer werdenden Anteils der Löhne und Gehälter am individuell verfügbaren Einkommen könnte diese Annahme überholt sein.

Gleiches gilt für die zunehmende Vermögensbildung durch Erbschaften und Zuwendungen unter Lebenden. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Vermögenszuwachs auch einem Teil der etwa 40 Millionen pflichtversicherten Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung zugute kommt. Trifft dies in größerem Umfang zu, so wäre es nicht mehr gerechtfertigt, bei der Bemessung der Krankenversicherungsbeiträge der Pflichtversicherten - anders als bei den freiwillig Versicherten - bestimmte Einkünfte unberücksichtigt zu lassen. Ebenso wird bei einer Neuregelung zu prüfen sein, ob die unterschiedliche beitragsrechtliche Belastung der Versorgungsbezüge durch hinreichend gewichtige Gründe gerechtfertigt ist.

3. Die Änderung der Übergangsregelung durch das GSG vom 21. Dezember 1992 verstößt gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Sie betrifft solche Versicherten, die die Halbbelegung nur mit Zeiten freiwilliger Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung erreichen. Für diese hat sie die ursprünglich bis zum 31. Dezember 1993 geltende Übergangsregelung auf den 31. Dezember 1992 begrenzt. Eine Übergangsregelung bewirkt besonderen Vertrauensschutz bei den hiervon potentiell Begünstigten. Sie vertrauen nicht nur allgemein auf die Fortgeltung geltenden Rechts, sondern auf die Fortgeltung einer Regelung, die aus Gründen des Vertrauensschutzes nach Abwägung mit dem öffentlichen Interesse aufrecht erhalten blieb. Eine solche Regelung kann nur aufgehoben werden, wenn sich nicht nur die maßgeblichen Umstände geändert haben, sondern schwere Nachteile für das Gemeinwohl ohne ihre Streichung zu befürchten sind, vorausgesetzt, das Vertrauen in ihre Fortgeltung ist schutzwürdig.

Die hier getroffene Übergangsregelung entfaltet Wirkungen für Versicherte, die kurz vor dem Rentenbezug standen. Diese werden, ohne dass sie eine Alternative haben, auf die freiwillige Versicherung verwiesen. Dieser Eingriff wiegt schwer, weil vielfach getroffene Dispositionen der Versicherten unterlaufen wurden. Der Rentenbeginn kann nämlich vom Antragsteller in gewissem Umfang gesteuert werden. Die Wahl des Zeitpunkts wird von den gesetzlichen Rahmenbedingungen und von Optimierungsüberlegungen beim Rentenantragsteller beeinflusst, die schon im Vorfeld der Antragstellung Vorkehrungen nötig machen. Dies hat der Gesetzgeber mit der Verkürzung der Übergangszeit durchkreuzt, ohne dass dafür ein hinreichend gewichtiges öffentliches Interesse bestand. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beibehaltung der Übergangsvorschrift für das letzte Jahr ihrer Geltung schwere Nachteile für ein wichtiges Gemeinschaftsgut und insbesondere für die Funktionsfähigkeit der Krankenversicherung zur Folge gehabt hätte.

Die bereits bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren bleiben von der Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit der Regelung unberührt. Versicherte, die an sich in den Genuss der Übergangsregelung für ein weiteres Jahr gekommen wären und deren Bescheid über Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung noch nicht bestandskräftig ist, haben demnach Anspruch auf Zugang zur Krankenversicherung der Rentner.

Karlsruhe, den 27. Juli 2000