Bundesverfassungsgericht

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Zum Schutz von Minderheitsaktionären bei "übertragender Auflösung"

Pressemitteilung Nr. 120/2000 vom 13. September 2000

Beschluss vom 23. August 2000
1 BvR 68/95

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden (Vb) nicht zur Entscheidung angenommen, die den Schutz von Minderheitsaktionären betreffen.

1. Der Beschwerdeführer (Bf; Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre e.V.) war mit zwei Aktien an der (früheren) Moto Meter AG beteiligt. Diese wurde zu 99 % von der Bosch GmbH (Muttergesellschaft) beherrscht. Die Muttergesellschaft wollte die Moto Meter AG vollständig in ihren Konzern einbinden und dazu die Aktien der verbliebenen Minderheitsaktionäre übernehmen. Nachdem es ihr nicht gelungen war, im Rahmen eines Kaufangebots sämtliche ausstehenden Aktien zu erwerben, beschloss sie, das Vermögen der Moto Meter AG vollständig auf eine ihr zu 100 % gehörende Tochtergesellschaft zu übertragen und sodann die Moto Meter AG zu liquidieren (so genannte "übertragende Auflösung").

Die dazu nach dem Aktienrecht erforderlichen Beschlüsse zur Übertragung des gesamten Gesellschaftsvermögens sowie zur Liquidation traf die Hauptversammlung der Moto Meter AG mit den Stimmen der Muttergesellschaft gegen die Stimmen der Minderheitsaktionäre, unter anderem des Bf. Die Minderheitsaktionäre verloren mithin mit der Liquidation ihre Beteiligung an der Moto Meter AG; sie erhielten dafür im Rahmen des Liquidationsverfahrens den ihnen zustehenden Anteil an dem Liquidationserlös, welcher im Wesentlichen aus dem Preis für das Gesellschaftsvermögen bestand.

Der Bf sah sich durch das Vorgehen der Großaktionärin in seinen Rechten verletzt. Er sei unter dem Vorwand einer angeblichen Liquidation aus der Gesellschaft ausgebootet worden. Tatsächlich habe die Großaktionärin die Gesellschaft nicht liquidieren, sondern lediglich die Minderheitsaktionäre unter Umgehung der gesetzlichen Schutzvorkehrungen aus der Gesellschaft drängen wollen. Die Großaktionärin habe den Preis für das Gesellschaftsvermögen und damit mittelbar den Liquidationserlös ohne jede Kontrolle selbst bestimmt und damit letztlich den Preis für die ihm gehörenden Aktien selbst festgelegt. Die Gerichte müssten deshalb die "übertragende Auflösung" verbieten oder das Vorgehen der Großaktionärin auf eine sachliche Rechtfertigung hin prüfen, zumindest aber eine entsprechende Wertkontrolle (des Kaufpreises und damit mittelbar des Liquidationserlöses) vornehmen.

Die Fachgerichte gaben den entsprechenden Klagen des Bf nicht statt. Sie sahen in dem Vorgehen der Mehrheitsaktionärin keine unzulässige Umgehung der gesetzlichen Schutzvorschriften. Auch ein Anspruch auf angemessene Abfindung und ein darauf gerichtetes Spruchverfahren seien vom geltenden Recht nicht vorgesehen. Hiergegen wandte sich der Bf mit seinen Verfassungsbeschwerden, in denen er unter anderem eine Verletzung von Artikel 14 Abs. 1 GG rügte.

2. Die Kammer hat die Vb nicht zur Entscheidung angenommen.

Zur Begründung heißt es unter anderem:

Art. 14 Abs. 1 GG schützt grundsätzlich auch das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum. Das Grundrecht schützt Minderheitsaktionäre aber nicht prinzipiell davor, gegen ihren Willen aus der Gesellschaft herausgedrängt zu werden. Der Gesetzgeber darf in Übereinstimmung mit der Verfassung ein entsprechendes Anliegen und Vorgehen des Mehrheitsaktionärs als grundsätzlich berechtigt anerkennen, solange dabei die schutzwürdigen Interessen der Minderheitsaktionäre gewahrt bleiben. Das verlangt mit Blick auf Minderheitsaktionäre vor allem, die mit der Aktie verbundenen Vermögensinteressen gegen Maßnahmen des Großaktionärs hinreichend zu schützen.

Ein Großaktionär darf auf die Aktien der Minderheitsaktionäre daher zwar grundsätzlich auch im Weg der "übertragenden Auflösung" zugreifen.

Ein solches Vorgehen setzt allerdings voraus, dass die Minderheitsaktionäre für den Verlust ihrer Aktien wirtschaftlich voll entschädigt werden und dies rechtlich auch entsprechend abgesichert ist. Bei der im vorliegenden Fall von der Bosch GmbH gewählten Methode der "übertragenden Auflösung" müssen die Fachgerichte daher entweder analog entsprechender Vorschriften des Aktien- und Umwandlungsrechts prüfen, ob die Minderheitsaktionäre im Zuge der Veräußerung des gesamten Unternehmens und der Liquidation für den Verlust ihrer Aktien wirtschaftlich voll entschädigt worden sind, oder sie müssen, wenn sie sich durch das Aktienrecht an einer solchen Wertkontrolle gehindert sehen, den Weg der "übertragenden Auflösung" auf eine aktienrechtliche Anfechtungsklage hin untersagen.

3. Diesen Anforderungen sind die Gerichte im vorliegenden Fall nicht hinreichend nachgekommen. Artikel 14 Abs. 1 GG verbietet "die übertragende Auflösung" zwar nicht schlechthin. Es ist von der Verfassung her auch nicht erforderlich, dass die Gerichte Hauptversammlungsbeschlüsse auf eine sachliche Rechtfertigung hin überprüfen. Mit den grundrechtlichen Anforderungen steht es aber nicht in Einklang, dass in den fachgerichtlichen Verfahren an keiner Stelle geprüft worden ist, ob die Minderheitsaktionäre und der Bf für den Verlust ihrer Aktien eine angemessene Entschädigung erhalten haben.

Die Vb sind dennoch nicht zur Entscheidung anzunehmen. Der Bf war im vorliegenden Fall durch die "übertragende Auflösung" lediglich in seinem Vermögensinteresse beeinträchtigt. Da er aber nur mit zwei Aktien an der Moto Meter AG beteiligt war, ist sein (möglicher) finanzieller Nachteil gering. Eine existenzielle Betroffenheit, die das Bundesverfassungsgericht zur Aufhebung der Entscheidung veranlassen müsste, ist daher nicht ersichtlich. Der Bf konnte sich im vorliegenden Fall auch nicht darauf berufen, als Sachwalter der Interessen anderer Kleinaktionäre aufgetreten zu sein. Seine Entscheidung, den von ihm angestrebten Einfluss auf das Gesellschaftsvermögen mit nur zwei Aktien erreichen zu wollen, wirkt auf die Möglichkeit des rechtlichen Schutzes seiner Vermögensinteressen - auf die es allein ankam - zurück.

Karlsruhe, den 13. September 2000