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Zur Zulassung ehemaliger DDR-Richter als Rechtsanwalt/Notar

Pressemitteilung Nr. 127/2000 vom 4. Oktober 2000

Beschluss vom 21. September 2000, Beschluss vom 21. September 2000, Beschluss vom 21. September 2000
1 BvR 661/96
1 BvR 514/97
1 BvR 2069/98

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat über mehrere Verfassungsbeschwerden (Vb) entschieden, die die Zulassung ehemaliger DDR-Richter als Rechtsanwalt oder Notar betrafen.

I.

1. Der Beschwerdeführer (Bf) im Verfahren 1 BvR 514/97 war von 1974 bis 1990 Richter in der DDR, anschließend bis Mitte 1991 weiter als Richter tätig. Wegen der von ihm mit zu verantwortenden Verurteilungen von DDR-Bürgern wegen politischer Straftaten wurde zunächst gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet, später aber eingestellt. Der erste, 1991 gestellte Antrag des Bf auf Zulassung als Rechtsanwalt wurde abgelehnt. Die zuständige Rechtsanwaltskammer vertrat die Auffassung, nach so kurzer Zeit sei die erforderliche innere Unabhängigkeit des Bf noch nicht gewährleistet. Der zweite, 1993 gestellte Zulassungsantrag fand die Zustimmung der Rechtsanwaltskammer. Die Landesjustizverwaltung befand den Bf jedoch weiterhin wegen seiner strafrichterlichen Tätigkeit für unwürdig, den Anwaltsberuf auszuüben. Der Anwaltsgerichtshof Sachsen- Anhalt und der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigten diese Ablehnung.

2. Die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 661/96 (Bf'in) war von 1980 bis 1990 Richterin in der DDR, davon von 1985 bis 1988 Strafrichterin. Im Februar 1990 schied sie aus dem Justizdienst aus und betreibt seither nach entsprechender Fortbildung gemeinsam mit einem Kollegen ein Notariat. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz enthob sie mit Wirkung vom 1. Januar 1993 ihres Amtes, weil sie in der Zeit von 1985 bis 1988 menschenrechtsverletzende Verurteilungen ausgesprochen habe. Die Amtsenthebung ist bisher nicht vollzogen worden. Vor dem Oberlandesgericht (OLG) hatte die Bf'in mit ihrem Rechtsmittel Erfolg. Der Senat für Notarverwaltungssachen in Sachsen hielt sie auch angesichts der gegen sie vorgebrachten Vorwürfe nicht für ungeeignet als Notarin.

Der BGH hat die Amtsenthebung jedoch bestätigt.

II.

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat in beiden Fällen die den Bf nachteiligen Entscheidungen aufgehoben und dies im Wesentlichen folgendermaßen begründet:

Das BVerfG hat bereits mehrfach entschieden, dass es mit der Berufsfreiheit vereinbar ist, wenn die Zulassung zur Anwaltschaft davon abhängig gemacht wird, ob ein Bewerber sich eines Verhaltens schuldig gemacht hat, das ihn unwürdig erscheinen lässt, den Beruf eines Rechtsanwalts auszuüben. Wenn einem Bewerber Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit vorzuwerfen sind, ist er als Rechtsanwalt ungeeignet. Gleiches gilt für Notare. Diese sind nach der verfassungsrechtlich unbedenklichen Vorschrift (§ 6 des Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter - RNPG) des Amtes zu entheben, wenn sie bei ihrer Bestellung nach ihrer Persönlichkeit für das Notaramt nicht geeignet waren, weil sie gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere im Zusammenhang einer Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes verstoßen haben. Die Würdigung, dass beide Bf durch ihre Tätigkeit als Strafrichter in der DDR gegen diese Grundsätze verstoßen haben, ist jedoch mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.

Alleine die Tätigkeit als Strafrichter gilt - im Gegensatz zur Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes - nach dem Willen des Gesetzes nicht als Indiz für solche Verstöße. Obwohl aus heutiger Sicht die Anwendung der politischen Straftatbestände rechtsstaatlichen Strafen regelmäßig nicht entsprach, werden die damaligen Entscheidungsträger wegen ihrer strafrichterlichen Tätigkeit nicht ohne Weiteres zur Verantwortung gezogen. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit kann deshalb nur dann angenommen werden, wenn konkrete Umstände hinzutreten und ein Richter durch schuldhaftes Verhalten entweder selbst fundamentale Schutzgüter verletzt hat oder es für ihn absehbar gewesen ist, dass solche Verletzungen die Folge seines Handelns sein werden. Weder im Einigungsvertrag noch im RNPG hat der Gesetzgeber ein generelles Unwerturteil über die Strafrichter der DDR gesprochen, obwohl ihm deren Einbindung in das System durch eine Vielzahl von Vorschriften, Erlassen und organisatorischen Maßnahmen bekannt war, wie die Kammer anhand umfangreicher Literaturnachweise darstellt.

Es ist daher eine Prüfung des Einzelfalles geboten, um einen ehemaligen DDR-Richter der Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit für schuldig zu befinden. Mit einer solchen Einzelfallprüfung ist es unvereinbar, die Strafurteile aus der DDR an dem im bundesdeutschen Recht geltenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Dieser Grundsatz galt in der DDR nicht.

Hinsichtlich der Bf stellt die Kammer fest, dass die Bf'in im Verfahren 1 BvR 661/96 nach DDR-Maßstäben als eher milde hinsichtlich der ausgeurteilten Strafen und der Aussetzung derselben zur Bewährung einzuordnen ist. Ihr Verhalten war gekennzeichnet durch ihren Wunsch, im Richterdienst zu verbleiben; die hierfür notwendige und übliche Loyalität hat sie an den Tag gelegt. Schwerwiegende und individuelle Schuldvorwürfe ergeben sich hieraus nicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im DDR-Strafrecht keine Anknüpfung für eine begrenzende Auslegung und Anwendung der Strafrechtsnormen gab. Das Strafrecht im Zusammenhang mit Ausreisebegehren wurde kontinuierlich verschärft, der Strafrahmen erhöht, der Tatbeginn auf Vorbereitungshandlungen vorverlegt und die gemeinschaftliche Begehung als schwerer Fall eingeführt. In diesem Rechtsverständnis ist die Bf'in ausgebildet worden. Andere Maßstäbe hat sie nicht kennen gelernt. Schließlich bestand auf dem Boden der DDR schon seit 1933 unter ganz unterschiedlichen politischen Verhältnissen kontinuierlich kein Rechtsstaat mehr.

Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich die Ausreisefreiheit nicht zu einem unverbrüchlichen individuellen Menschenrecht verfestigt hat. Weder ist sie im Völkerrecht verankert noch im Grundgesetz enthalten. Auch in der Bundesrepublik Deutschland sind Ausreiseverbote im Einzelfall verhängt worden.

Schließlich waren die Richter in der DDR nicht - wie in der Bundesrepublik - durch die institutionell abgesicherte richterliche Unabhängigkeit geschützt. Sie waren vielmehr durch die Wiederwahlanforderungen, die ständige inhaltliche Kontrolle ihrer Arbeit und die jederzeitige Absetzbarkeit in hohem Maße vom Wohlwollen der Parteiführung abhängig. Sie hatten zudem fast keine Möglichkeiten, in andere Berufe auszuweichen, weil insbesondere die frei gewählte Niederlassung als Rechtsanwalt ausschied.

Endlich ist nach den Grundentscheidungen im Einigungsvertrag und im RNPG die individuelle Schuld der DDR-Richter nicht daran zu messen, wie viel Widerstand sie dem DDR-Justizsystem entgegengesetzt haben, sondern nur daran, welche Ergebnisse sie zu verantworten haben. Dabei ist auch die tatsächliche Vollstreckung der Strafen einzubeziehen. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass den Richtern anhand der Kennzeichnung der Akten häufig bekannt war, welche Angeklagten nach ihrer Verurteilung vom Westen "freigekauft" werden würden. Dies war in 90 bis 95% aller Fälle zu erwarten.

Die Berücksichtigung dieser Umstände führt auch hinsichtlich des Bf im Verfahren 1 BvR 514/97 dazu, dass ihm ein individueller Vorwurf schwerer Schuld nicht gemacht werden kann. Er hat als Jüngster in einem Senat gemeinsam mit seinen Kollegen einstimmig die Rechtsmittel verworfen.

Sein Verhalten beruht im Wesentlichen auf der Einbindung in das Kollegialorgan, seinem Hinzutreten als Jüngster und einer der Hierarchie geschuldeten Loyalität. Er hätte mit Widerstand gegen bestehende Strukturen versuchen können, mildere Strafurteile zu erreichen. Dies unterlassen zu haben, begründet keinen schweren Schuldvorwurf.

Hinsichtlich beider Bf ist zudem ihre weitere Entwicklung zu berücksichtigen. Eine derart schwerwiegende Entscheidung wie der Ausschluss aus dem gewählten Beruf kann nicht getroffen werden, ohne dem Betroffenen die Chance der Bewährung einzuräumen. Die Rechtsanwaltskammer hat den Bf vier Jahre nach den letzten politischen Strafurteilen nicht mehr für unwürdig gehalten, als Rechtsanwalt zugelassen zu werden. Ihm ist auch nicht sofort nach der Wende nahe gelegt worden, den richterlichen Dienst zu quittieren. Er ist vielmehr für geeignet gehalten worden, noch Aufbauarbeit zu leisten.

Die Bf'in wiederum arbeitet seit Jahren unbeanstandet als Notarin. Ihr kann die Eignung zum Notarberuf nur abgesprochen werden, wenn ihr aus der Vergangenheit weiter ein schwerer Makel anhaftet. Das ist aus den von ihr zu verantwortenden Urteilen nicht abzuleiten.

III.

Eine weitere Vb einer ehemaligen DDR-Richterin, die ihre Zulassung als Rechtsanwältin begehrt, ist von der Kammer nicht zur Entscheidung angenommen worden. Diese Bf'in ist wegen Rechtsbeugung verurteilt worden.

Karlsruhe, den 4. Oktober 2000