Bundesverfassungsgericht

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Verurteilung wegen Verunglimpfung des Staates aufgehoben

Pressemitteilung Nr. 150/2000 vom 23. November 2000

Beschluss vom 03. November 2000
1 BvR 581/00

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole stattgegeben und die Sache nach Aufhebung der strafgerichtlichen Entscheidungen an das Amtsgericht (AG) Tiergarten in Berlin zurückverwiesen.

1. Im September 1997 fand in Berlin eine angemeldete Versammlung unter dem Motto "Freiheit für U" statt, an welcher der Beschwerdeführer (Bf) als Versammlungsleiter teilnahm. Thema der Veranstaltung war die vorangegangene Inhaftierung des U, der später wegen Abspielens des Liedes "Deutschland muss sterben" der Hamburger Punkrock-Gruppe "Slime" verurteilt wurde. Gegen Ende der Kundgebung ließ der Bf eben jenes Lied über den Lautsprecherwagen in großer Lautstärke abspielen, obwohl er zuvor mehrfach von Polizeibeamten darauf hingewiesen worden war, dass das genannte Lied nicht abgespielt werden dürfe. Die ca. 50 Versammlungsteilnehmer sangen das Lied teilweise mit.

In diesem Lied werden die Verhältnisse im Lande scharf angegriffen; der wiederkehrende und den größten Teil des Textes ausmachende Refrain lautet: "Deutschland muss sterben, damit wir leben können".

Nach den Feststellungen des AG ist das Lied nicht als jugendgefährdend indiziert; Tonaufzeichnungen davon sind im Handel frei erhältlich. Das AG verurteilte den Bf wegen einer Straftat nach § 90 a StGB zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen. Er habe durch Abspielen des Liedes bei einer Versammlung die Bundesrepublik Deutschland beschimpft und böswillig verächtlich gemacht. Dies ergebe sich aus dem eindeutigen Wortlaut des Liedtextes und den konkreten Umständen des Abspielens. Die Kunstfreiheit schütze den Bf nicht. Als rechtsstaatlich verfasste Demokratie sei die Bundesrepublik Deutschland in ihrem von der inneren Zustimmung ihrer Bürger abhängigen Bestand auf ein Mindestmaß an Achtung angewiesen, auch um die Grundrechtsausübung selbst wirksam gewährleisten zu können. Darin liege ein verfassungsrechtlich und strafrechtlich geschütztes Rechtsgut, das im vorliegenden Fall die Berufung auf die Kunstfreiheit versage.

Das Landgericht (LG) verwarf die Berufung des Bf. Dieser könne sich nicht auf die "Kunst- und Meinungsfreiheit" berufen, da der Schutzbereich dieser Grundrechte durch § 90 a Abs. 1 StGB eingeschränkt sei. Die Revision des Bf zum Kammergericht (KG) blieb ohne Erfolg.

2. Die Kammer hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben und zur Begründung sinngemäß ausgeführt:

Das LG und ihm folgend das KG haben bereits Bedeutung und Tragweite des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts der Kunstfreiheit verkannt, für welches weder die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG noch die des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG gelten. Das AG hat zwar zutreffend erkannt, dass es sich bei dem Lied um ein Kunstwerk im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG handelt, und ist der Frage der verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Einschränkung der Kunstfreiheit nachgegangen. Bei der Würdigung des Liedtextes hat es jedoch die der Kunst eigentümlichen Strukturmerkmale nicht hinreichend berücksichtigt und eine werkgerechte Interpretation verfehlt. Dadurch kommt es zu einer Grenzziehung zwischen Kunstfreiheit und widerstreitenden Verfassungswerten, die den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht gerecht wird:

Das AG hebt in seinem Urteil undifferenziert auf den "Wortlaut des inkriminierten Liedes" ab, "welcher unmissverständlich zum Ausdruck" bringe, "dass sich eine Besserung der Lage für die Staatsbürger nur durch eine Vernichtung des Staatssystems der Bundesrepublik Deutschland erreichen lassen soll". Diese Interpretation wird dem satirischen, verfremdenden und metaphorischen Gehalt des Werks jedoch nicht gerecht. Bei dem Lied handelt es sich erkennbar um eine plakative, drastische Kritik mit satirischem Einschlag an gesellschaftlichen und politischen Zuständen in Deutschland. Charakteristisches Merkmal dieser Kunstform ist, dass der Aussagekern mit symbolhaft überfrachteten Bildern verbrämt und in karikaturhaft überzeichneten Ausdrücken umschrieben wird; typisch sind auch Anspielungen auf zeitgeschichtliche Vorgänge und literarische Reminiszenzen.

Die Kammer stellt die kritische Absicht des Liedes dar und führt zu seinem künstlerischen Anspruch als literarisches Vorbild das Gedicht "Die schlesischen Weber" von Heinrich Heine an. Zum zeitgeschichtlichen Zusammenhang weist die Kammer ferner auf das in Hamburg stehende Denkmal für das Hanseatische Infanterieregiment Nr. 76 von 1936 hin, welches die Inschrift trägt "Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen". Anfang der 80-er Jahre gab es in Hamburg eine breite öffentliche, zum Teil emotionale Auseinandersetzung um dieses Denkmal und ein in seiner unmittelbaren Nähe aufgestelltes "Gegendenkmal" von Alfred Hrdlicka. Die Hamburger Punkrock-Gruppe "Slime" hatte damals diese Thematik in ihrem Lied aufgegriffen. All diese Gesichtspunkte sind vom AG in seiner Würdigung des Aussagekerns des Liedes nicht berücksichtigt worden.

Karlsruhe, den 23. November 2000