Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerden gegen Verbot der "Schockwerbung" erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 156/2000 vom 12. Dezember 2000

Urteil vom 12. Dezember 2000
1 BvR 1762/95

Der Erste Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2000 die Urteile des Bundesgerichtshofs aufgehoben, mit denen dem beschwerdeführenden Presseunternehmen (Bf) der Abdruck dreier Werbeanzeigen der Firma Benetton untersagt worden war. Zum Inhalt der Verfassungsbeschwerde (Vb) wird auf die Pressemitteilung Nr. 130/2000 vom 10. Oktober 2000 verwiesen, die auf Anfrage gern übersandt wird.

Das BVerfG hat die Urteile aufgehoben, weil sie die Bf in ihrer Pressefreiheit verletzen. Zur Begründung führt das Gericht maßgeblich aus:

Auch die Veröffentlichung einer fremden Meinungsäußerung - sei diese auch kommerziell oder reine Wirtschaftswerbung - fällt unter den Schutzbereich der Pressefreiheit. Hierzu zählen auch vielsagende Bilder. Zu Recht haben die Gerichte den Benettonanzeigen diese Deutung als Meinungsäußerung unterlegt.

Durch das Verbot, diese Anzeigen abzudrucken, wird die Bf in ihrer Pressefreiheit eingeschränkt. Einem Presseorgan darf die Veröffentlichung einer fremden Meinungsäußerung nicht verboten werden, wenn dem Meinungsträger selbst ihre Äußerung und Verbreitung zu gestatten ist. Das BVerfG folgt allerdings nicht dem Argument der Bf, § 1 UWG, auf den der Bundesgerichtshof (BGH) sein Verbot gestützt hat, sei nicht bestimmt genug oder einer Anwendung auf Fälle der vorliegenden Art von vornherein nicht zugänglich. Die in § 1 UWG enthaltene Generalklausel, wonach Wettbewerbshandlungen, die gegen die guten Sitten verstoßen, verboten sind, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Der BGH hat jedoch bei seiner wettbewerbsrechtlichen Bewertung der Anzeigen Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit setzt nämlich eine Rechtfertigung durch wichtige Gemeinwohlbelange oder Rechte Dritter voraus. Solche hat der BGH weder festgestellt noch sind sie sonst ersichtlich:

Der BGH beurteilt die Benetton-Anzeigen als sittenwidrig, weil er mit der Darstellung schweren Leids von Mensch und Tier Gefühle des Mitleids erweckt und dieses Gefühl ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken ausgenutzt sieht. Ein derartiges Wettbewerbsverhalten dürfte tatsächlich von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden. Dies sagt jedoch noch nicht ohne Weiteres etwas darüber aus, ob damit hinreichend gewichtige Belange Dritter oder der Allgemeinheit verletzt werden. In der Konfrontation des Betrachters mit unangenehmen oder mitleiderregenden Bildern liegt keine derartige Belästigung, die grundrechtsbeschränkende Wirkung rechtfertigen könnte.

Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Anders kann es zu beurteilen sein, wenn ekelerregende, furchteinflössende oder jugendgefährdende Bilder gezeigt werden.

Auch aus dem Umstand, dass zwischen den mit suggestiver Kraft wirkenden Bildern und den beworbenen Produkten kein Zusammenhang besteht, kann eine derartige Belästigung nicht abgeleitet werden. Diese Zusammenhanglosigkeit zeichnet einen Großteil der heutigen Imagewerbung aus - wenn auch herkömmlicherweise mit Bildern, die z. B. an libidinöse Wünsche oder Sehnsüchte appellieren. Dass möglicherweise die Verbraucher an derartige "positive" Bilder eher gewöhnt sind als an Appelle an das Mitleidsgefühl rechtfertigt es nicht, letzteren belästigende Wirkungen zuzuschreiben.

Auch Gemeinwohlbelange sind nicht betroffen. Es lässt sich nicht feststellen, dass Werbung, die inhumane Zustände und Umweltverschmutzung anprangert, Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen in unserer Gesellschaft fördern würde.

Andererseits greift das Verbot schwerwiegend in die Meinungsfreiheit ein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Anzeigen der Firma Benetton zur Auseinandersetzung über die von ihnen aufgezeigten Missstände nichts wesentliches beitragen. Auch das bloße Anprangern eines Missstandes steht unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG und wird durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt.

Da die Verbote zu den Motiven "Kinderarbeit" und "ölverschmutzte Ente" ausschließlich auf der dargestellten Auslegung des § 1 UWG beruhen, sind sie aufzuheben. Das Motiv "H.I.V.-Positive" ist vom BGH auch deshalb für wettbewerbswidrig gehalten worden, weil diese Anzeige in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde verstoße, in dem sie den Aidskranken als "abgestempelt" und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle.

Das BVerfG hält die Auslegung des § 1 UWG dahin, dass eine Bildwerbung sittenwidrig ist, die die Menschenwürde abgebildeter Personen verletzt, für verfassungsrechtlich unbedenklich. Es steht aber keineswegs fest, dass die "H.I.V.-Positive" Anzeige in diesem Sinne zu verstehen ist.

Mindestens genauso naheliegend ist nämlich eine Deutung, wonach mit der Anzeige gerade auf die befürchtete oder stattfindende Ausgrenzung H.I.V. Infizierter anklagend hingewiesen werden sollte. Der BGH hätte sich daher mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinandersetzen und für die gefundene Lösung Gründe angeben müssen, um Art. 5 Abs. 1 GG gerecht zu werden.

Karlsruhe, den 12. Dezember 2000