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Völkermord vor deutschen Gerichten

Pressemitteilung Nr. 6/2001 vom 16. Januar 2001

Beschluss vom 12. Dezember 2000
2 BvR 1290/99

Die 4. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines bosnischen Serben (Bf) gegen seine Verurteilung wegen Völkermordes nicht zur Entscheidung angenommen. Der Bf war in Deutschland festgenommen worden, in erster Instanz durch das Oberlandesgericht Düsseldorf und bestätigend durch den Bundesgerichtshof wegen Völkermordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die insoweit einschlägige Völkermordkonvention sowie die §§ 6 und 220a StGB sind in der Anlage auszugsweise abgedruckt.

Zur Begründung für den Nichtannahmebeschluss führt die Kammer im Wesentlichen aus:

1. Die Fachgerichte waren nicht verpflichtet, vorab eine Entscheidung des BVerfG darüber einzuholen, ob Völkermord nach dem deutschen Strafgesetzbuch bestraft werden kann. Eine Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 2 GG bestand nicht; eine solche setzt Zweifel über die Anwendbarkeit von allgemeinem Völkerrecht voraus. Die Fachgerichte haben jedoch nicht allgemeines Völkerrecht, sondern Völkervertragsrecht als Grundlage der Verurteilung herangezogen.

2. Die Auslegung der Fachgerichte zum räumlichen Anwendungsbereich der Vorschriften über den Völkermord nach dem Weltrechtspflegeprinzip hält sich im Rahmen der möglichen Interpretation der deutschen wie der völkerrechtlichen Norm und ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die den Urteilen zu Grunde liegende Annahme, deutsche Gerichte und der Jugoslawien-Strafgerichtshof seien für Völkermordtaten in Bosnien-Herzegowina konkurrierend zuständig.

3. Die Kammer legt weiter dar, dass die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung des § 220a StGB verfassungsrechtlich keinen Einwänden begegnet, insbesondere nicht Art. 103 Abs. 2 GG verletzt. Als spezielles Willkürverbot für die Strafgerichtsbarkeit verpflichtet Art. 103 Abs. 2 GG den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend bestimmt zu umschreiben. Für die Rechtsprechung folgt hieraus ein Verbot analoger Strafbegründung. Der mögliche Wortsinn markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.

Die angegriffenen Urteile beruhen auf der Auslegung, der Völkermordtatbestand schütze ein überindividuelles Rechtsgut, nämlich die soziale Existenz der Gruppe. Diese Interpretation findet in dem Wortlaut der Norm darin einen Anhaltspunkt, dass sich die Zerstörungsabsicht gegen die "Gruppe als solche" richten muss. Die in § 220a StGB vorausgesetzte Absicht, eine Gruppe zu zerstören, ist schon nach dem Wortsinn umfassender als die der physisch-biologischen Vernichtung der Gruppe. Das folgt auch daraus, dass das Gesetz in § 220a Nr. 3 StGB die "körperliche Zerstörung" ausdrücklich benennt.

Zudem bezeichnet § 220a Nr. 4 StGB einen Sonderfall der biologischen Vernichtung einer Gruppe. Dementsprechend setzt der Wortlaut der Norm nicht zwingend voraus, dass es die Absicht des Täters sein muss, eine nennenswerte Zahl an Mitgliedern der Gruppe zu töten.

Die Annahme der Fachgerichte, dass sich die Absicht der Zerstörung auch auf einen geografisch begrenzten Teil der Gruppe beziehen kann, überschreitet den möglichen Wortsinn der Norm ebenfalls nicht. Die angegriffenen Urteile gehen davon aus, dass systematische Vertreibungen ein Mittel der Zerstörungsabsicht und damit ein Indiz für diese sein können, diese aber nicht allein begründen.

4. Ob deutsches Strafrecht auf einen Auslandssachverhalt angewendet werden kann, ist auch am Rechtsstaatsprinzip zu messen. Dem entspricht es, dass dem anwendbaren Völkerrecht besondere Bedeutung zukommt. Bei der Auslegung von § 220a StGB ist daher der internationale Völkermordtatbestand, wie er in Art. II Völkermordkonvention, Art. 4 Statut des Jugoslawien-Straf-gerichtshofs, Art. 4 des Ruanda-Strafgerichtshofs und Art. 6 Römisches Statut eines internationalen Strafgerichtshofs niedergelegt ist, zu berücksichtigen. Nach Auffassung der Kammer hält sich die Auslegung des § 220a StGB durch die Fachgerichte im Rahmen der möglichen Interpretation des völkerrechtlichen Völkermordtatbestandes unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung der internationalen Jugoslawien- und Ruanda-Strafgerichtshöfe sowie der Praxis der Generalversammlung und des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.

Karlsruhe, den 16. Januar 2001

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 6/2001 vom 16. Januar 2001

Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes

Art. I

Die Vertragschließenden Parteien bestätigen, daß Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten.

Art. II

In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

(b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

(c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen:

(d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

(e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in einen andere Gruppe.

Art. VI

Personen, denen Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen zur Last gelegt wird, werden vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt, das für die Vertragschließenden Parteien, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben, zuständig ist.

§ 6 StGB

Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter. Das deutsche Strafrecht gilt weiter, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden:

1. Völkermord (§ 220a)

2. ... 9.

§ 220a StGB Völkermord

(1) Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,

1. Mitglieder der Gruppe tötet,

2. Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 bezeichneten Art, zufügt,

3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,

4. Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,

5. Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

(2.) ...