Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Unterhaltsverzichtsvertrag Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2000

Pressemitteilung Nr. 19/2001 vom 6. Februar 2001

Urteil vom 06. Februar 2001
1 BvR 12/92

Mit Urteil vom heutigen Tag hat der Erste Senat des BVerfG aufgrund einer Verfassungsbeschwerde (Vb) ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart aufgehoben, durch welches die Beschwerdeführerin (Bf) verpflichtet worden war, ihren Ehemann von Unterhaltsansprüchen des gemeinsamen Kindes über 150,- DM monatlich hinaus freizustellen. Das OLG hatte den zugrunde liegenden Ehevertrag, in dem neben dieser Freistellungsverpflichtung ein Verzicht auf nachehelichen Ehegattenunterhalt vereinbart worden war, für wirksam gehalten. Die Hintergründe des Verfahrens sind in der Pressemitteilung Nr. 130/2000 vom 10. Oktober dargestellt, die auf Anfrage gern übersandt wird.

Das BVerfG stellt fest, dass die Entscheidung des OLG Stuttgart die Bf in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG sowie aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt. Zur Begründung führt es im Wesentlichen aus:

1. Das OLG hat seine Entscheidung auf die ehevertragliche Scheidungsfolgenvereinbarung zwischen der Bf und dem Vater des Kindes gestützt. Die Berufung auf diese Vereinbarung sei nicht rechtsmissbräuchlich; ebenso wenig sei die Vereinbarung als sittenwidrig zu bewerten.

Damit hat das OLG das Recht der Bf aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG auf Schutz vor unangemessener Benachteiligung durch den Ehevertrag verkannt.

a) Im Zivilrecht obliegt es den Gerichten, den Schutz der Grundrechte des Einzelnen durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Dabei haben sie die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie zu achten und grundsätzlich den in einem Vertrag zum Ausdruck gebrachten übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien zu respektieren, der in der Regel auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen lässt. Bei besonders einseitiger Lastenverteilung und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner muss das Recht jedoch auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt. Dies gilt auch für Eheverträge. Der Staat hat der Freiheit der Ehegatten, ihre ehelichen und rechtlichen Beziehungen durch Vertrag zu gestalten, dort Grenzen zu setzen, wo der Vertrag nicht Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft ist, sondern eine einseitige Dominanz eines Ehepartners widerspiegelt. Unrichtig ist die Annahme des OLG, die Eheschließungsfreiheit stehe einer Inhaltskontrolle von Eheverträgen entgegen. Die Eheschließungsfreiheit umfasst nicht die Freiheit zu unbegrenzter Ehevertragsgestaltung, insbesondere nicht zu einseitiger ehevertraglicher Lastenverteilung.

b) Enthält ein Ehevertrag eine erkennbar einseitige Lastenverteilung zu Ungunsten der Frau und ist er vor der Ehe und in Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft geschlossen worden, gebietet auch der Anspruch der werdenden Mutter auf Schutz und Fürsorge aus Art. 6 Abs. 4 GG eine besondere richterliche Inhaltskontrolle des Vertrages. Eine Situation von Unterlegenheit ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine nicht verheiratete Frau schwanger ist und sich vor die Alternative gestellt sieht, in Zukunft entweder allein für das erwartete Kind Verantwortung und Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Vater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrages: Zum einen bedeutet Schwangerschaft für jede Frau einen existentiellen Umbruch in ihrem Leben. Sie durchläuft einen Entwicklungsprozess, der sie körperliche Veränderungen erfahren lässt und der für ihre eigene Gesundheit sowie die des Kindes Risiken in sich birgt. Sie muss ihre Lebensführung und Lebensplanung umstellen; neue Aufgaben, Pflichten und Verantwortlichkeiten entstehen. Gerade bei unverheirateten Müttern geht dies häufig mit dem Scheitern der Beziehung zum Vater einher. Darüber hinaus bestehen auch heute noch gesellschaftliche und soziale Zwänge, aufgrund derer sich eine werdende Mutter für ihre Nichtheirat unter Rechtfertigungsdruck fühlen kann. 1976 - als der hier strittige Ehevertrag geschlossen wurde - war die ledige Mutter noch deutlich stigmatisiert.

Hinzu kommt für die nicht verheiratete Schwangere die Gewissheit, die alleinige Verantwortung und Sorge für das Kind tragen zu müssen. Ist der Vater zur gemeinsamen Sorge nicht bereit, bleibt sie allein für das Kind verantwortlich. Ein Unterhaltsanspruch gegen den Mann besteht nur eingeschränkt. Schon im frühen Alter des Kindes muss sie Kinderbetreuung und eigene Existenzsicherung gleichermaßen sicherstellen.

Besonders gravierend ist in der Regel die ökonomische Perspektive für Mütter nichtehelicher Kinder. Meist sinkt ihr Einkommen nach der Geburt des Kindes auf weniger als die Hälfte des vorherigen Einkommens. Etwa ein Drittel der allein erziehenden Mütter mit Kindern lebt auf oder unter Sozialhilfeniveau, während lediglich 15% der ehelichen Kinder in ebenso beengten Verhältnissen aufwachsen. Eine deutlich schlechtere Zahlungsmoral von Vätern gegenüber nichtehelichen Kindern führt häufig zur Notwendigkeit, Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz in Anspruch nehmen zu müssen.

Schwangerschaft bei Abschluss eines Ehevertrages ist allerdings nur ein Indiz für ein vertragliches Ungleichgewicht. Die Vermögenslage der Schwangeren, ihre berufliche Qualifikation und Perspektive sowie die von den zukünftigen Eheleuten geplante Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit in der Ehe müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Im Einzelfall können diese Umstände die dargelegte Unterlegenheit ausgleichen, auch wenn die Frau im Ehevertrag auf gesetzlich garantierte Rechte verzichtet.

Bringt aber auch der Inhalt eines Ehevertrags eine solche Unterlegenheitsposition der Schwangeren zum Ausdruck, wird die Schutzbedürftigkeit offenkundig. Dies ist der Fall, wenn der Vertrag sie einseitig belastet und ihre Interessen keine angemessene Berücksichtigung finden. Ob dem so ist, hängt wesentlich auch von der Lebensplanung der Ehepartner ab. Soll danach einer der Eheleute sich im Wesentlichen der Kinderbetreuung und Haushaltsführung widmen, bedeutet ein Verzicht auf nachehelichen Unterhalt eine Benachteiligung dieser Person.

Das in dem Ehevertrag enthaltene Eheversprechen wiegt die einseitige Belastung eines Vertragspartners nicht auf. Die Partner sind frei in der Entscheidung, ob sie eine Ehe eingehen wollen. Entschließen sie sich dafür, bringt die Ehe beiden gleichermaßen Rechte und Pflichten. Das Eheversprechen als solches begründet keine einseitige Belastung eines der Versprechenden.

c) Das OLG hat in der angegriffenen Entscheidung weder die besondere Situation der Bf als Schwangere mit bereits einem Kind bei Vertragsabschluss gesehen noch ist es der Frage nachgegangen, ob der Ehevertrag die Bf in unangemessener Weise belastet. Hierfür bot der Inhalt des Vertrages allerdings Anlass: Der gegenseitige Verzicht auf nachehelichen Unterhalt schwächt die wirtschaftliche Lage der Bf nachhaltig. Sie sollte für den Fall der Scheidung die Sorge für das gemeinsame Kind tragen und konnte nicht damit rechnen, mit zwei Kindern ihre Einkommenslage aus eigener Kraft wesentlich zu verbessern.

Hingegen gab der Ehemann mit seinem eigenen Verzicht nichts auf; er konnte nicht erwarten, im Falle der Scheidung Unterhalt von der Bf zu erlangen. Zudem hat die Bf trotz ihrer vergleichsweise schlechten wirtschaftlichen Lage den Vater weit gehend von der Unterhaltspflicht dem gemeinsamen Kind gegenüber freigestellt. Damit ist ihr die Aufgabe der alleinigen Kinderbetreuung und die Sorge für den eigenen Unterhalt sowie den des gemeinsamen Kindes zugewiesen worden. Dieser deutlichen Belastung der Bf steht die Entlastung des Ehemannes von ihrem etwaigen Unterhaltsanspruch wie auch dem des Kindes (über 150,- DM hinaus) gegenüber. Damit wurde er sogar besser gestellt als der Vater eines nichtehelichen Kindes. Das Gericht hat diese Vertragskonstellation unter Hinweis auf die Eheschließungsfreiheit nicht zum Anlass für eine Kontrolle des Vertragsinhalts genommen und dadurch verkannt, dass die Eheschließungsfreiheit nicht die Freiheit zur unangemessenen einseitigen vertraglichen Interessendurchsetzung eröffnet.

2. Die Entscheidung des OLG verstößt zudem gegen Art. 6 Abs. 2 GG. Die darin den Eltern zugewiesene Verantwortung für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder ist ein Grundrecht im Interesse des Kindes. Bei nachhaltiger Gefährdung des Kindeswohls hat das Kind als Grundrechtsträger Anspruch auf Schutz des Staates vor verantwortungsloser Ausübung des Elternrechts.

Zur Elternverantwortung gehört auch, für einen ihrem eigenen Vermögen gemäßen und zugleich angemessenen Unterhalt des Kindes zu sorgen und seine Betreuung sicherzustellen. Wie die Eltern diese Aufgabe erfüllen, liegt in ihrer Entscheidungsfreiheit. Treffen sie eine Vereinbarung für den Fall der Scheidung, müssen sie dafür sorgen, dass die regelmäßig mit der Trennung verbundene seelische Belastung gemildert und für die Pflege und Erziehung des Kindes eine interessengerechte Lösung gefunden wird.

Soll nach dem Elternwillen bei einer Scheidung ein Elternteil die alleinige Sorge für das gemeinsame Kind tragen und es betreuen und vereinbaren die Eltern darüber hinaus eine Freistellung des anderen Elternteils vom Kindesunterhalt durch den Betreuenden, werden sie ihrer Verantwortung dem Kinde gegenüber nicht gerecht und gefährden dessen Wohl, wenn dadurch eine den Interessen des Kindes entsprechende Betreuung und ein angemessener Barunterhalt nicht mehr sichergestellt sind. Der Unterhaltsanspruch des Kindes richtet sich nach dem Leistungsvermögen des Unterhaltspflichtigen und dem Bedürfnis des Kindes. Seine Höhe wird damit auch durch die soziale Lage der Eltern bestimmt und ist als solche kein Anhaltspunkt für eine Kindeswohlgefährdung. Wird der Kindesunterhalt jedoch nur deshalb in nachhaltiger Weise eingeschränkt, weil zumindest ein Elternteil sich der Sorge um sein Kind auch finanziell entziehen will, ist dies keine elterliche Interessenwahrnehmung für das Kind mehr. Will der Elternteil sich der Aufgabe, die Interessen des Kindes zu wahren, entledigen, gebietet es Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, staatlicherseits zum Schutze des Kindeswohls tätig zu werden.

Zwar hat die Freistellung eines Elternteils vom Kindesunterhalt durch den anderen rechtlich keine Auswirkungen auf den Unterhaltsanspruch des Kindes gegen seine Eltern. Tatsächlich verändert sich die wirtschaftliche Lage des Kindes jedoch wesentlich, wenn der betreuende Elternteil nicht über erhebliche finanzielle Mittel verfügt. Dieser erhält dann nicht nur keine Zahlungen für den Kindesunterhalt, sondern sein für ihn selbst zur Verfügung stehendes Einkommen wird durch die Verpflichtung zur Abdeckung des Kindesunterhalts gemindert. Das dem gemeinsamen Haushalt von Elternteil und Kind zur Verfügung stehende Einkommen sinkt hierdurch deutlich. Zudem ist die Möglichkeit einer Berufstätigkeit durch die Betreuung des Kindes eingeschränkt. Führt die Vereinbarung der Eltern dazu, dass der sorgende Elternteil im Fall der Scheidung wegen der vollen Übernahme des Kindesunterhalts seinen eigenen Unterhalt und den des Kindes nicht mehr durch Einkünfte decken oder aus Vermögen bestreiten kann, beeinträchtigt dies die Lebensumstände des Kindes in einer der Elternverantwortung zuwider laufenden Weise. Der sorgende Elternteil muss dann entweder die Betreuung des Kindes in fremde Hände geben, um das benötigte Einkommen zu verdienen oder mit dem Kind unter Verhältnissen leben, die die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes weit mehr einschränken, als es dem gemeinsamen elterlichen Vermögen entsprechen würde. Nur wenn dem sorgenden Elternteil ein Einkommen verbleibt, das den angemessenen Lebensunterhalt des Kindes, den eigenen Unterhalt und die Betreuungskosten deckt, ist eine Beeinträchtigung der Kindesinteressen auszuschließen. Ist dies bei Vereinbarung der Freistellung erkennbar nicht gewährleistet, gefährdet die elterliche Vertragsabrede das Kindeswohl. Dies hat das OLG nicht berücksichtigt, obwohl bei der Situation der Bf dazu Anlass gewesen wäre. Das OLG hat nicht geprüft, ob die Mutter den Unterhaltsanspruch des Kindes ohne übermäßige Anstrengungen oder erhebliches Absinken des familiären Lebensstandards erfüllen kann. Es hat letztlich nicht bedacht, dass die Freistellung Einfluss auf die Realisierung dieses Anspruchs und damit auf die Interessen des Kindes nehmen kann. Angesichts der recht bescheidenen Verdienstmöglichkeit der Bf als kaufmännische Angestellte und der Verpflichtung, neben dem mit in die Ehe gebrachten Kind auch für das eheliche Kind alleine finanziell zu sorgen sowie den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, hätte sich dem OLG die Frage aufdrängen müssen, ob die Freistellung des Vaters unter solchen Umständen nicht die Interessen des gemeinsamen Kindes verletzt.

Karlsruhe, den 6. Februar 2001