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Normenkontrollantrag "Wahlprüfung Hessen" teilweise erfolgreich Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 5. Dezember 2000

Pressemitteilung Nr. 20/2001 vom 8. Februar 2001

Urteil vom 08. Februar 2001
2 BvF 1/00

Der Zweite Senat des BVerfG hat durch Urteil vom heutigen Tage entschieden, dass Art. 78 Abs. 2 und Abs. 3 der Verfassung des Landes Hessen (HV) sowie §§ 1 und 2 Wahlprüfungsgesetz des Landes Hessen (WahlPrüfG) mit dem GG vereinbar sind. Hingegen ist § 17 WahlPrüfG mit Art. 92 GG unvereinbar und nichtig.

Als Übergangsregelung ordnet das BVerfG an: Ein Urteil des Wahlprüfungsgerichts vom Hessischen Landtag wird nicht vor Ablauf eines Monats nach seiner Verkündung wirksam.

Hintergrund und Vorgeschichte des Verfahrens sind in der Pressemitteilung Nr. 151/2000 vom 23. November 2000 dargestellt, die auf Anfrage gern übersandt wird.

Das BVerfG begründet seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt:

I.

Art. 78 Abs. 2 HV ist mit dem GG vereinbar.

1. Der Wendung "gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen" in Art. 78 Abs. 2 HV ist ein enges Verständnis zu Grunde zu legen. Der Wahlfehlertatbestand der sittenwidrigen Wahlbeeinflussung ist erfüllt, wenn in erheblicher Weise gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl verstoßen wurde.

Dies ergibt sich aus der gebotenen sachbereichsbezogenen Deutung der Norm. Erfasst wird, was unter den Bedingungen des Wahlwettbewerbs, der sich regelmäßig durch scharfe, mitunter polemische Angriffe auf den politischen Gegner und eine Zuspitzung unterschiedlicher politischer Standpunkte auszeichnet, von der Rechtsgemeinschaft als eine unlautere Einwirkung auf die Wählerwillensbildung angesehen wird.

Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt diesen Befund. Zunächst war vorgesehen, "amtliche und seelsorgerliche Wahlbeeinflussungen" als Beispiele sittenwidrigen Verhaltens in Art. 78 Abs. 2 HV ausdrücklich aufzunehmen. Davon wurde schließlich abgesehen, da man sich darin einig war, dass diese Formen der Einflussnahme auf die Wählerwillensbildung eine Wahl ungültig machen könnten, sie aber nicht ausdrücklich aufgeführt werden müssten.

Bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik wurde eine unzulässige, einen Wahlfehler begründende Wahlbeeinflussung nur dann angenommen, wenn durch Einwirkung auf die Wählerwillensbildung in erheblichem Maße gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl verstoßen worden ist. In dieser Tradition steht Art. 78 Abs. 2 HV.

Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung zu Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen führt der Zweite Senat aus, dass eine sittenwidrige, das Wahlergebnis beeinflussende Handlung im Sinne von Art. 78 Abs. 2 HV dann vorliegt,

  • wenn staatliche Stellen im Vorfeld einer Wahl in mehr als nur unerheblichem Maße parteiergreifend auf die Bildung des Wählerwirkens eingewirkt,
  • wenn private Dritte, einschließlich Parteien und einzelnen Kandidaten, mit Mitteln des Zwangs oder Drucks die Wahlentscheidung beeinflusst haben oder
  • wenn in ähnlich schwer wiegender Art und Weise auf die Wählerwillensbildung eingewirkt worden ist. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass keine hinreichende Möglichkeit der Abwehr, zum Beispiel mit Hilfe der Gerichte oder der Polizei, oder des Ausgleichs, etwa mit Mitteln des Wahlwettbewerbs, bestanden hat.

Außerhalb dieses Bereichs erheblicher Verletzung der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl stellt ein Einwirken von Parteien, einzelnen Wahlbewerbern, gesellschaftlichen Gruppen oder sonstigen Dritten auf die Bildung des Wählerwillens kein Verhalten dar, das den zur Prüfung gestellten Wahlfehlertatbestand erfüllt, selbst wenn es als unlauter zu werten sein und gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen sollte. Auch ist ein Gesetzesverstoß für die Annahme einer sittenwidrigen Wahlbeeinflussung im Sinne von Art. 78 Abs. 2 HV weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung.

Der Regelungszusammenhang der Vorschrift ergibt, dass eine sittenwidrige Wahlbeeinflussung nach Art und Gewicht zumindest ebenso bedeutsam sein muss wie Handlungen strafrechtlicher Natur.

Schließlich wird auch nur eine einschränkende Auslegung des Begriffs "sittenwidrige Handlungen" dem Sinn und Zweck der Norm gerecht. Das BVerfG hat bereits in früheren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, dass das Parlament durch die Wahlprüfung in der Wahrnehmung seiner Aufgaben möglichst nicht beeinträchtigt werden soll. Die Ungültigkeitserklärung einer gesamten Wahl setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich schiene.

2. In dieser Auslegung ist Art. 78 Abs. 2 HV mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG vereinbar. Das Demokratiegebot fordert von den Ländern ein Verfahren zur Prüfung ihrer Parlamentswahlen. Innerhalb des Rahmens von Art. 28 Abs. 1 GG genießen die Länder Autonomie. Sie überschritten die Grenzen ihrer Gestaltungsfreiheit allerdings, wenn schwer wiegende Verstöße gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl als mögliche Wahlfehler von vornherein außer Betracht blieben. Andererseits schließt das Demokratiegebot ebenfalls aus, Wahlbeeinflussungen einfacher Art und ohne jedes Gewicht schlechthin zum Wahlungültigkeitsgrund zu erheben.

In der dargestellten Auslegung hält sich die zur Prüfung gestellte Regelung ersichtlich innerhalb des Kernbereichs der den Ländern bei der Ausgestaltung ihres Wahlprüfungsrechts zustehenden Freiheit. Sie verstößt auch nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Der Sinngehalt der "guten Sitten" ist - wie gezeigt - mit den allgemein anerkannten Auslegungsregeln nach Maßgabe des Sachzusammenhangs bestimmbar.

II.

Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Art. 78 Abs. 3 HV und der §§ 1, 2 und 17 WahlPrüfG ist Art. 92 GG, der unmittelbar auch für die Länder gilt. Danach ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Ihre Ausübung ist den Gerichten des Bundes und der Länder vorbehalten.

Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt ist durch die Verfassungsrechtsprechung nicht abschließend geklärt. Allein aus der Besetzung eines staatlichen Gremiums mit unabhängigen Richtern kann noch nicht auf die Ausübung rechtsprechender Gewalt geschlossen werden. Maßgeblich ist eine materielle Bestimmung des Begriffs. Um Rechtsprechung im materiellen Sinne handelt es sich, wenn bestimmte hoheitsrechtliche Befugnisse bereits durch die Verfassung Richtern zugewiesen sind oder es sich von der Sache her um einen traditionellen Kernbereich der Rechtsprechung handelt. Daneben ist rechtsprechende Gewalt im Sinne des Art. 92 GG auch dann gegeben, wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich eine Ausgestaltung wählt, die bei funktioneller Betrachtung nur der rechtsprechenden Gewalt zukommen kann. Danach handelt es sich um Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können. Das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist, gehört zu den wesentlichen Merkmalen der Rechtsprechung in diesem Sinne.

Nach diesem Maßstab ist die Prüfung der Gültigkeit der Wahl zum hessischen Landtag nur teilweise als rechtsprechende Tätigkeit ausgeformt. Aus der Bezeichnung als Gericht und der Übertragung der Aufgabe der Wahlprüfung kann für sich genommen noch nicht auf das Vorliegen rechtsprechender Gewalt im funktionellen Sinne geschlossen werden.

Jedoch regelt § 17 WahlPrüfG die Ausübung rechtsprechender Gewalt im Sinne des Art. 92 GG. Dort ist bestimmt, dass das Urteil des Wahlprüfungsgerichts "mit seiner Verkündung rechtskräftig" wird. Der Entscheidung des Wahlprüfungsgremiums kommt damit eine Rechtswirkung zu, die nur von unabhängigen staatlichen Gerichten im Sinne des IX. Abschnitts des GG herbeigeführt werden kann. Es trifft eine letztverbindliche Entscheidung darüber, was im konkreten Fall rechtens ist und keiner weiteren gerichtlichen Kontrolle (mit Ausnahme außerordentlicher Rechtsbehelfe) unterliegt. Die Anordnung derartiger Rechtswirksamkeit ist von Verfassungs wegen nur als Teil der rechtsprechenden Gewalt im Sinne von Art. 92 GG zulässig.

Eine solche Entscheidung kann nicht durch ein gemischtes Gremium wie das Wahlprüfungsgericht getroffen werden, weil niemand Richter in eigener Sache sein kann. Zum Wesen richterlicher Tätigkeit gehört, dass sie durch einen nicht beteiligten Dritten in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird. Den drei gewählten Abgeordneten des Landtags, die nach Art. 78 Abs. 3 HV i.V.m. § 1 WahlPrüfG Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts sind, fehlt es an der für das Richteramt erforderlichen Neutralität und Distanz zum Gegenstand des wahlprüfungsgerichtlichen Verfahrens. Die dem Wahlprüfungsgericht angehörenden Landtagsabgeordneten verlieren ihre Landtagsmandate, wenn das Wahlprüfungsgericht die Wahl insgesamt für ungültig erklärt. Damit sind diese Abgeordneten der Natur der Sache nach selbst Partei.

Nicht zu entscheiden ist, ob die Prüfung der Gültigkeit einer Parlamentswahl materiell zur rechtsprechenden Gewalt gehört und damit von Verfassungs wegen letztverbindlich von einem Gericht im Sinne des Art. 92 ff. GG vorzunehmen ist. Denn mit dem Staatsgerichtshof des Landes Hessen steht jedenfalls eine gerichtliche Kontrollinstanz zur Verfügung, die einen den Erfordernissen der Wahlprüfung genügenden Rechtschutz gewährleisten kann.

Die sofortige Rechtskraft eines Urteils des Wahlprüfungsgerichts, bei dem die erforderliche Neu-tralität und Unparteilichkeit seiner parlamentarischen Mitglieder nicht gewährleistet ist, hat zur Folge, dass § 17 WahlPrüfG mit Art. 92 GG unvereinbar und damit nichtig ist. Würde diese Vorschrift als rechtsgültig angesehen, wäre die Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil sie nicht den Anforderungen des Art. 92 GG entspricht. Da die staatsorganisatorischen Entscheidungen der Länder möglichst unangetastet bleiben und Eingriffe in ihren Verfassungsraum auf das geringst mögliche Maß beschränkt werden müssen, ist allein § 17 WahlPrüfG für nichtig zu erklären. Dem Landesgesetzgeber steht es nunmehr frei, die Frage der Wirksamkeit der abschließenden Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts nach Maßgabe der aufgezeigten Grundsätze neu zu regeln oder ein zweistufiges Verfahren nach dem Vorbild des Art. 41 GG oder eine personelle Zusammensetzung des Wahlprüfungsgremiums zu wählen, die den Anforderungen der Art. 92 ff. GG entspricht.

III.

Die Nichtigkeit des § 17 WahlPrüfG schafft eine Regelungslücke. Sie macht eine Übergangsregelung erforderlich. Zwar kann das Wahlprüfungsgericht im Rahmen des § 15 WahlPrüfG weiter über die Gültigkeit der Wahl zum Hessischen Landtag befinden. Es ist jedoch geboten, im Wege einer Anordnung nach § 35 BVerfGG übergangsweise unter größt möglicher Schonung der den Ländern zustehenden staatsorganisatorischen Gestaltungsfreiheit eine Regelung hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen der Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts zu treffen, die der gesetzgeberischen Konzeption des Wahlprüfungsverfahrens im Wahlprüfungsgesetz des Landes Hessen genügt.

Dem entspricht es anzuordnen, dass das Urteil des Wahlprüfungsgerichts nach § 15 WahlPrüfG nicht vor Ablauf eines Monats nach seiner Verkündung, innerhalb dessen beim Staatsgerichtshof des Landes Hessen um Rechtschutz nachgesucht werden kann, Wirksamkeit erlangt.

Karlsruhe, den 8. Februar 2001