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Zur Vorlagepflicht an den EuGH

Pressemitteilung Nr. 21/2001 vom 12. Februar 2001

Beschluss vom 09. Januar 2001
1 BvR 1036/99

Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren die Pflicht der Fachgerichte betont, unter bestimmten Voraussetzungen Rechtsfragen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorzulegen.

1. Die Beschwerdeführerin (Bf) ist Ärztin und möchte sich zur Praktischen Ärztin qualifizieren. Nach der EG-Richtlinie 86/457/EWG von 1986 muss die hierfür erforderliche Ausbildung teilweise in einer Vollzeitbeschäftigung durchlaufen werden. Für alle Facharztausbildungen hingegen, auch diejenige zum Facharzt für Allgemeinmedizin, können nach der EG-Richtlinie 75/363/EWG von 1975 die Länder auch Teilzeitqualifikationen zulassen, sofern das Niveau der Weiterbildung nicht beeinträchtigt wird. Die 1993 erlassene EG-Richtlinie 93/16/EWG zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte löste beide Richtlinien ab. Sie behielt die beschriebenen Unterschiede bei.

Die Bf, die sich ursprünglich zur Fachärztin für Allgemeinmedizin weiterbilden wollte, arbeitete von 1988 bis 1992 vollzeit im Krankenhaus. Nach der Geburt von Zwillingen war sie in einer Allgemeinmedizinpraxis teilzeitbeschäftigt. Ihr Antrag auf Anerkennung als Praktische Ärztin wurde von der Ärztekammer Hamburg abgelehnt; ihre Klage blieb in allen Instanzen erfolglos. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) begründete die Zurückweisung der Revision mit den nach seiner Rechtsauffassung zwingenden europarechtlichen Vorgaben zur mindestens sechsmonatigen Vollzeittätigkeit bei einem niedergelassenen Arzt. Zwar habe der EuGH bislang nicht entschieden, ob solche Vorgaben gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts verstießen. Eine Vorlage an den EuGH komme jedoch nicht in Betracht. Die Richtlinien zum Arztrecht seien eindeutig. Sie verdrängten nach den allgemeinen Grundsätzen der Spezialität und Priorität die Gleichbehandlungsrichtlinie aus dem Jahr 1976. Ob das im Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts verletzt sein könnte, sei schon deshalb nicht zu prüfen, weil die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich nicht der Überprüfung am Maßstab der nationalen Grundrechtsbestimmungen unterlägen.

2. Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat diese Entscheidung des BVerwG aufgehoben, weil sie gegen den in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Anspruch auf den gesetzlichen Richter verstößt. Zur Begründung führt die Kammer im Wesentlichen aus:

Das BVerfG hat mehrfach festgestellt, dass der EuGH gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist und es einen Entzug desselben darstellt, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nachkommt. Unter Hinweis auf diese Rechtsprechung stellt die Kammer fest, dass das BVerwG aus zwei Gründen seine Vorlagepflicht in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt hat.

Zum einen hat es die Frage der Kollision zwischen der Gleichberechtigungsrichtlinie und den Ärzterichtlinien allein nach nationalen Maßstäben beurteilt. Es hat sich nicht erkennbar mit der vorhandenen Rechtsprechung des EuGH zur Problematik von Richtlinienkollisionen auseinandergesetzt. Aus welcher Norm des Europäischen Rechts das BVerwG seine Berechtigung herleitet, selbst über die Normenkollision nach Grundsätzen zu entscheiden, die es dem deutschen Recht entnimmt (Grundsätze der Priorität und der Spezialität), belegt es nicht. Ein Gericht, das sich hinsichtlich des Europäischen Rechts nicht ausreichend kundig macht, verkennt regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Dabei umfasst der Begriff des Europäischen Rechts nicht nur materielle Rechtsnormen, sondern auch die Methodenwahl; denn die Wahl der Methode entscheidet auch darüber, welche Rechtsnorm sich im Kollisionsfall durchsetzt und damit materiell gilt.

Das BVerwG hat seine Vorlageverpflichtung ferner dadurch grundsätzlich verkannt, dass es nicht in Betracht gezogen hat, ob der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter zu den vom EuGH anerkannten ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten gehört. Die Grundrechtsverbürgungen, die vom EuGH aus den mitgliedsstaatlichen Verfassungen und der europäischen Menschenrechtskonvention entwickelt worden sind und als allgemeine Rechtsgrundsätze Geltung als primäres Gemeinschaftsrecht entfalten, bilden die Grundlage dafür, dass das BVerfG von einem wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft durch den EuGH ausgeht und sich seiner Kontrollbefugnis begeben hat ("Solange II"). Die Frage, ob der vom EuGH entwickelte Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter dem im GG verankerten Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts entsprechen und Geltung als primäres Gemeinschaftsrecht entfalten könnte, wäre zur Überprüfung des sekundären Gemeinschaftsrechts ebenfalls in Betracht zu ziehen gewesen. Auch diese Überlegung hätte eine Vorlage unabweisbar gemacht. Denn der Grundrechtsschutz der Bf liefe ins Leere, wenn das BVerfG mangels Zuständigkeit keine materielle Prüfung anhand der Grundrechte vornehmen kann und der EuGH mangels Vorabentscheidungsersuchen nicht die Möglichkeit erhält, sekundäres Gemeinschaftsrecht anhand der für die Gemeinschaft entwickelten Grundrechtsverbürgungen zu überprüfen.

Karlsruhe, den 12. Februar 2001