Bundesverfassungsgericht

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Altersgrenze für Niederlassung als Vertragsarzt bestätigt

Pressemitteilung Nr. 37/2001 vom 10. April 2001

Beschluss vom 20. März 2001
1 BvR 491/96

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat festgestellt, dass es mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar ist, Ärzte jenseits des 55. Lebensjahres nicht mehr neu zur vertragsärztlichen Versorgung zuzulassen.

I.

Beschwerdeführer (Bf) ist ein 1934 geborener Arzt für Innere Medizin. Seit 1969 war er an einer Universitätsklinik als Oberarzt und außerplanmäßiger Professor tätig. Kurz vor seinem 60. Geburtstag beantragte er erfolglos die Zulassung als Vertragsarzt. Zur Begründung der Ablehnung bezogen der Zulassungsausschuss und die Gerichte sich auf § 98 SGB V und die Zulassungsordnung. Danach ist die erstmalige Zulassung eines Arztes, der das 55. Lebensjahr vollendet hat - außer in Härtefällen - ausgeschlossen.

Diese Vorschriften (im Anhang abgedruckt) sind mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) 1989 in Kraft getreten. Ziel ihrer Einführung war die Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Dem lag die auf empirische Erhebungen gestützte Einschätzung des Gesetzgebers zugrunde, dass die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen auch mit der steigenden Zahl niedergelassener Ärzte zusammenhängt. Zur Kostendämpfung sind in den letzten Jahren eine Vielzahl weiterer Maßnahmen zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ergriffen worden. Unter anderem wurden die Beitragsbemessungsgrenze angehoben, den Versicherten Zuzahlungen abverlangt, Festbeträge für Arznei- und Hilfsmittel eingeführt und bestimmte Sachleistungen vollständig aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen. Weiter wurde der Facharztvorbehalt für die Vertragsarztzulassung eingeführt und eine absolute Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragsärzte festgelegt. Auch Maßnahmen wie die Budgetierung, die Absenkung der Punktwerte u.s.w. sollen das Krankenversicherungssystem bei vertretbarer Beitragshöhe für Versicherte und Arbeitgeberleistungsfähig erhalten.

II.

Mit Beschluss vom 20. März 2001 hat der 1. Senat des BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Bf gegen die Verweigerung der Zulassung zurückgewiesen. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Die Sicherung der finanziellen Stabilität der Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von überragendem Gewicht, der Regelungen der Berufsausübung, aber auch der Berufswahl rechtfertigt. Bei der Erreichung dieses Ziels hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, den er durch die Festlegung der Altersgrenze nicht überschritten hat. Verfolgt er ein komplexes Ziel - wie die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung - mit vielfältigen Mitteln, ist eine Maßnahme nicht ungeeignet, weil die Betroffenen andernorts größere Einsparpotentiale sehen. Eine einzelne Maßnahme ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil nicht alle Betroffenen durch die gesetzlichen Vorkehrungen gleichmäßig belastet werden. Der Gesetzgeber muss bei der Regelung dieses Bereichs verschiedene, zum Teil gegenläufige Grundrechtspositionen und Gemeinwohlbelange ausgleichen.

Das Beitragsaufkommen lässt sich nicht beliebig erhöhen; gerade die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen stellen den Großteil der gesetzlich Krankenversicherten. Das System reguliert sich nicht nach den Kräften des Marktes selbst, denn die Preise für die ärztliche Leistung werden nicht zwischen Arzt und Patient ausgehandelt, sondern durch sozialstaatliche Regelungen festgesetzt. Diese eröffnen erst die Beteiligung an dem umfassenden sozialen Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung, das aus Beiträgen der Versicherten finanziert wird, von dem auch die Leistungserbringer profitieren und für dessen Funktionsfähigkeit der Staat die Verantwortung trägt. Gleichzeitig muss die angemessene Versorgung der Versicherten gewährleistet sein, eine leistungsfähige Ärzteschaft ist hierfür Voraussetzung.

Die Kostenbegrenzung ist damit nur eines der Ziele, die der Gesetzgeber verfolgt, um das System insgesamt funktionsfähig zu erhalten. Zugleich strebt er an, dass die volkswirtschaftlich für vertretbar gehaltene Beitragsbelastung, die der Krankenversicherung ihr Finanzierungsvolumen vorgibt, nicht überschritten und die Verteilung der Finanzmittel den Zielen der Versorgung der Versicherten mit einem ausreichenden und zweckmäßigen Schutz im Krankheitsfall gerecht wird. Mehrausgaben in einem Sektor bedingen dabei notwendigerweise Kürzungen an anderer Stelle, wenn Beitragserhöhungen vermieden werden sollen.

Auch dieses Streben nach einer ausgewogenen Lastenverteilung gehört zu den vom Gesetzgeber legitimerweise definierten Zielen einer strukturellen Ausgewogenheit.

Die getroffenen Maßnahmen sind grundsätzlich geeignet, zur finanziellen Stabilität der Krankenversicherung beizutragen, wenn auch keine Einzelmaßnahme nachhaltig gewirkt haben mag. Ihre Festlegung im Einzelnen ist eine politische Entscheidung, die durch die Verfassung nicht vorgegeben ist. Insbesondere ist es keine Frage des Verfassungsrecht, ob sich das Gesamtziel auch auf andere Weise und besser hätte erreichen lassen.

Auch die hier angegriffene Altersgrenze ist eine solcherart geeignete Maßnahme. Der Gesetzgeber konnte sich besondere wirtschaftliche Einsparungen von ihr versprechen. Denn es besteht die auf plausible Annahmen gestützte Gefahr, dass Personen, die die vertragsärztliche Tätigkeit nur noch während einer relativ kurzen Zeit (nämlich zwischen dem 55. und 68. Lebensjahr) ausüben können, erhöhte Umsätze anstreben.

Gerade in den ersten Jahren nach Gründung einer Praxis verbleibt dem Arzt ein geringerer Anteil seines Umsatzes als Gewinn, da er in der Regel Kredite abzahlen muss. Es dauert durchschnittlich 12 Jahre, bis die für einen Praxiserwerb oder eine Praxisgründung notwendigen Kredite insgesamt zurückgezahlt sind. Haben Ärzte nur wenige Jahre der Gewinnerzielung aus selbstständiger Tätigkeit zur Verfügung, wollen aber dennoch durchschnittliche Gewinne erwirtschaften, müssen sie einen erhöhten Umsatz anstreben, was - aus der Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung unerwünschte - Mengenausweitungen zur Folge haben kann. Der Gesetzgeber durfte es daher für angezeigt halten, mit den Zugangsbeschränkungen gerade solche Ärzte fernzuhalten, die angesichts des sie selbst treffenden wirtschaftlichen Drucks weniger geeignet erscheinen, kostenbewusst im Gesamtsystem tätig zu werden. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Vertragsarzt nicht nur die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt, sondern zugleich Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt ist. Vertragsärzte entscheiden über die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Heilbehandlung. Sie verordnen durchschnittlich Kassenleistungen in Höhe des Vierfachen ihres Honorars. Allgemeinärzte veranlassen nach Schätzungen sogar das Siebenfache des eigenen Umsatzes. Sie müssen deshalb Kenntnisse im Vertragsarztrecht haben und bereit sein, wirtschaftlich vertretbare Behandlungen in einer betriebswirtschaftlich sinnvollen Weise zu organisieren. Erfahrungen mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten einer Vertragsarztpraxis werden im Laufe der Jahre erworben. Ärzte, die bis dahin im Krankenhaus, im Labor oder in der Forschung tätig waren, konnten diese regelmäßig nicht erwerben. Hierin liegt ein signifikanter Unterschied gegenüber den gleich alten Ärzten, die schon seit Jahren an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.

Der Bf kann auch nicht geltend machen, es gäbe weniger einschneidende Mittel zur Stabilisierung der Krankenversicherung. Eine Maßnahme ist nicht deshalb ein milderes Mittel, weil sie nicht den Bf, sondern eine andere Gruppe trifft. So wäre eine weitere Absenkung der ärztlichen Vergütung kein milderes Mittel, da sie sich im Wesentlichen gegen die bereits zugelassenen Vertragsärzte richtet.

Die Altersgrenze von 55 Jahren für eine erstmalige Zulassung als Vertragsarzt trifft den Bf auch nicht unverhältnismäßig. Es handelt sich um ein Lebensalter, in dem für abhängig Beschäftigte bereits Altersteilzeit und Frühverrentung in Betracht kommen. Die Betroffenen sind in ihrem Beruf, den sie weiter ausüben können, in der Regel bereits voll etabliert. Auch ist zu berücksichtigen, dass sie die Entscheidung, sich als Vertragsarzt niederzulassen bevor sie 55 Jahre alt werden, in großem Umfang selbst in der Hand haben. Die Möglichkeit einer Härtefallregelung kann untypischen Umständen Rechnung tragen.

Karlsruhe, den 10. April 2001

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 37/2001 vom 10. April 2001

Die maßgebliche Vorschrift des § 98 SGB V hat folgenden Wortlaut:

Zulassungsverordnungen

1. Die Zulassungsverordnungen regeln das Nähere über die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung sowie die zu ihrer Sicherstellung erforderliche Bedarfsplanung (§ 99) und die Beschränkung von Zulassungen. Sie werden vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Rechtsverordnung erlassen.

2. Die Zulassungsverordnungen müssen Vorschriften enthalten über

1. bis 11. .....

12. den Ausschluss einer Zulassung oder Ermächtigung von Ärzten, die das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet haben, sowie die Voraussetzungen für Ausnahmen von diesem Grundsatz, soweit die Ermächtigung zur Sicherstellung erforderlich ist, und in Härtefällen,

13. bis 15. .....

§ 25 der Zulassungsverordnung für Kassenärzte (Ärzte-ZV) in der Fassung von Art. 18 Nr. 13 GRG bestimmt ergänzend:

Die Zulassung eines Arztes, der das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet hat, ist ausgeschlossen. Der Zulassungs ausschuss kann von Satz 1 in Ausnahmefällen abweichen, wenn dies zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich ist.

Die Vorschrift ist gemäß Art 79 Abs. 1 GRG am 1. Januar 1989 in Kraft getreten.