Bundesverfassungsgericht

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Zur teilweisen Aufhebung eines Versammlungsverbots im deutsch-niederländischen Grenzgebiet

Pressemitteilung Nr. 38/2001 vom 11. April 2001

Beschluss vom 24. März 2001
1 BvQ 13/01

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat am 24. März 2001 im Wege der einstweiligen Anordnung eine Kundgebung von Rechtsextremisten im deutsch-niederländischen Grenzgebiet bei Aachen unter Auflagen ermöglicht.

1. Nach einer Auftaktkundgebung in Herzogenrath sollte der geplante Aufzug auf niederländischem Gebiet weitergeführt werden und in die Stadt Kerkrade und zurück führen. Der Veranstalter wollte als Hilfsmittel Landknechtstrommeln, schwarze Fahnen, Transparente, Trageschilder, bis zu sechs Handlautsprecher sowie einen Lautsprecherwagen benutzen.

Die Versammlungsbehörde untersagte die Demonstration mit der Begründung, es seien Straftaten zu erwarten. Darüber hinaus werde der Aufzug viele Bürger im grenznahen Bereich an den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im Jahre 1940 erinnern. Dies stelle eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar. Das Verwaltungsgericht Aachen und das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen bestätigten das Verbot. Die angemeldete Versammlung habe ein nationalsozialistisches Gepräge. Der auf die Abwehr nationalsozialistischer Bestrebungen gerichteten grundgesetzlichen Werteordnung müsse bei der Auslegung und bei der Definition des Anwendungsbereichs der öffentlichen Ordnung die verfassungsrechtlich gebotene Geltung verschafft werden.

2. Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gab dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Auflagen statt. In den Gründen, deren schriftliche Fassung jetzt nachgereicht wurde, führt die Kammer im Wesentlichen aus:

a) Weder die Versammlungsbehörde noch die Gerichte haben hinreichend dargelegt, dass die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts aus der Versammlung zu erwarten ist. Selbst wenn dies dargelegt worden wäre, kann ein Versammlungsverbot hierauf erst gestützt werden, wenn die Schwelle der Strafbarkeit überschritten zu werden droht. Meinungsäußerungen, die den Tatbestand etwa des § 130 StGB (Volksverhetzung), § 86 a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) oder §§ 90 a, b StGB (Verunglimpfung des Staates, seiner Symbole oder von Verfassungsorganen) verwirklichen, gefährden die öffentliche Sicherheit. Wird die Grenze zur Strafbarkeit jedoch nicht erreicht, kann weder eine Meinungsäußerung noch eine Versammlung, in der derartige Meinungen geäußert werden, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung verboten werden. Art. 5 GG schützt auch Kritik. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Daher sind die Bürger auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden. Für besondere Gefahrenlagen gibt es Vorkehrungen einer wehrhaften und streitbaren Demokratie, wie Grundrechtsverwirkung und Parteienverbot. Solche Normen dienen auch dem Ziel, ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu verhindern.

b) Hieraus folgt, dass - solange die öffentliche Sicherheit nicht berührt ist - versammlungsrechtliche Auflagen oder Verbote nur zum Schutz von Rechtsgütern ergehen können, die nicht durch den Inhalt der Äußerung, sondern auf andere Weise gefährdet werden. Insoweit erkennt § 15 des Versammlungsgesetzes zwar auch die öffentliche Ordnung als Schranke der Versammlungsfreiheit an. Unter öffentlicher Ordnung wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens angesehen wird. Mehrheitsanschauungen allein reichen zur Bestimmung des Gehalts der öffentlichen Ordnung nicht. Art. 8 GG ist für die Freiheitlichkeit der demokratischen Ordnung besonders wichtig als Minderheitenschutzrecht. Beschränkungen von Versammlungen sind nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn von der Versammlung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung auszugehen droht, die nicht auf der bloßen Äußerung der Inhalte beruht, sondern auf besonderen, beispielsweise provokativen oder aggressiven, das Zusammenleben der Bürger konkret beeinträchtigenden Begleitumständen. Art. 8 GG schützt Aufzüge, nicht aber Aufmärsche mit paramilitärischem oder sonst wie einschüchterndem Charakter.

Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben waren, hat das Bundesverfassungsgericht dahinstehen lassen. Das Verbot war in jedem Fall unverhältnismäßig, da die angenommene Gefahr durch mildere Mittel hätte beseitigt werden können. Soweit die Gerichte die Verhängung von Auflagen mit der Begründung verneint haben, dass der Erlass von Auflagen auf die Durchführung einer ganz anderen, bislang nicht beantragten Versammlung hinauslaufen würde, haben sie dem Veranstalter der Versammlung die Möglichkeit genommen, selbst zu bestimmen, ob er die geplante Versammlung gegebenenfalls mit solchen Auflagen durchführen will. Da der Antragsteller selbst dargelegt hat, "für Auflagen offen zu sein", hat er zum Ausdruck gebracht, an der Durchführung der Versammlung auch mit Auflagen interessiert zu sein.

Karlsruhe, den 11. April 2001