Bundesverfassungsgericht

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Altenpflegegesetz vorläufig nicht in Kraft

Pressemitteilung Nr. 55/2001 vom 29. Mai 2001

Beschluss vom 22. Mai 2001
2 BvQ 48/00

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 22. Mai 2001 im Wege der einstweiligen Anordnung das für den 1. August 2001 vorgesehene Inkrafttreten des Altenpflegegesetzes vorläufig suspendiert.

Die Bayerische Staatsregierung, die einen Normenkontrollantrag gegen das Gesetz gestellt hat, hatte auch beantragt, das Inkrafttreten des Altenpflegegesetzes bis nach der Entscheidung über ihren Normenkontrollantrag zu verschieben. Diesem Antrag hat das BVerfG entsprochen. Zur Begründung führt der Zweite Senat im Wesentlichen aus:

Das BVerfG darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen, nur mit äußerster Zurückhaltung Gebrauch machen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Gesetz stellt sich stets als schwerwiegender Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dar. Die Anrufung des BVerfG darf nicht zu einem Mittel der im Gesetzgebungsverfahren Unterlegenen werden, das Inkrafttreten des Gesetzes zu verzögern. Die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, müssen daher im Vergleich zu Anordnungen, die weniger schwer in die Interessen der Allgemeinheit eingreifen, bei Gesetzen besonderes Gewicht haben. Ist der Antrag in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, darf eine einstweilige Anordnung nicht ergehen. Ist dies aber nicht der Fall und ist das Gericht etwa wegen der Komplexität der Rechtsprobleme nicht in der Lage, die Hauptsache alsbald zu entscheiden, so nimmt das Gericht eine Folgenabwägung vor. Dabei sind die Nachteile, die entstehen, wenn eine einstweilige Anordnung nicht ergeht, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hat, gegen die Nachteile abzuwägen, die bei umgekehrter Konstellation auftreten.

1. Der Antrag der Bayerischen Staatsregierung ist zulässig und weder offensichtlich begründet noch offensichtlich unbegründet. Er wirft die verfassungsrechtlich bedeutsame Frage auf, ob dem Bund die Gesetzgebungszuständigkeit für den Erlass des Altenpflegegesetzes zusteht. Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes nach Art. 73 GG ist das Altenpflegegesetz nicht. Aus dem Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 Abs. 1 GG könnte sich für den Bund eine Zuständigkeit aus Nr. 19 (andere Heilberufe) ergeben. Dies wäre der Fall, wenn die Berufe in der Altenpflege "andere Heilberufe" wären und das Altenpflegegesetz die Zulassung zu diesen Berufen regelte. Beide Fragen lassen sich weder anhand vorhandener verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung noch aus der juristischen Literatur eindeutig und ohne weiteres beantworten, wie der Zweite Senat ausführt.

Selbst wenn ein Kompetenztitel aus Art. 74 GG für den Erlass des Altenpflegegesetzes zu bejahen ist, stellt sich weiter die Frage, ob eine bundeseinheitliche Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich ist. Hierfür ist im Hauptsacheverfahren die verfassungsrechtlich bedeutsame und bislang noch nicht entschiedene Frage zu klären, in welcher Richtung und in welchem Umfang die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden kann. Die im November 1994 erfolgte Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz durch den Bund verschärfen und die Überprüfungsmöglichkeiten durch das BVerfG erweitern. Angesichts dessen kann die zur alten Fassung ergangene verfassungsgerichtliche Rechtsprechung womöglich nicht ohne weiteres übernommen werden.

2. Der Zweite Senat hat deshalb eine Folgenabwägung vorgenommen. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Nachteile überwiegen, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, der Normenkontrollantrag im Hauptverfahren aber Erfolg hat.

Wie der Senat ausführt, hätte die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung insbesondere für die Berufsanfänger, die zum 1. August 2001 eine Ausbildung in der Altenpflege beginnen wollen, tiefgreifende Konsequenzen. Soweit sie die Ausbildung nach der neuen Rechtslage aufnehmen, das Altenpflegegesetz aber später für verfassungswidrig erklärt würde, hätten sie die Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache vergebens investiert. Ob sie dann mit Hilfe von Übergangsvorschriften diese einmal begonnene Ausbildung zuende bringen könnten, ist nicht gesichert.

Solchen Auszubildenden, die im Sinne des in Bayern zur Zeit geltenden Landesrechts eine Ausbildung in Teilzeit oder als Umschüler vornehmen wollen, wäre diese Möglichkeit mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes genommen (Umschüler) bzw. erheblich verschlechtert (Verlängerung der Teilzeitausbildung von bis zu 3,5 auf maximal 5 Jahre). Diese Veränderungen könnten davon abhalten, sich für die Ausbildung in der Altenpflege zu entscheiden. Selbst wenn sie die Ausbildung begönnen, das Altenpflegegesetz später aber für verfassungswidrig erklärt würde, ist ungewiss, ob und wie die bis dahin nach dem Bundesrecht absolvierte Ausbildungszeit angerechnet werden kann. Schließlich stellt sich das Inkrafttreten des Altenpflegegesetzes für jene Bewerbergruppe, die nach derzeitigem Landesrecht die Ausbildung an einer Fachschule beginnen kann, nach dem Altenpflegegesetz des Bundes aber nicht mehr zugangsberechtigt ist, als Sperre dar. Sollte das Altenpflegegesetz sich als verfassungswidrig erweisen, erleidet diese Gruppe nicht wieder gutzumachende zeitliche und persönliche Nachteile.

Darüber hinaus würden durch das Inkrafttreten des Altenpflegegesetzes und die daraus folgende Umstrukturierung der Ausbildung kleinere, einzügig geführte Schulen (53 von 81 Schulen in Bayern) und Schulen, die lediglich eine Teilzeitausbildung anbieten (12 von 81 Schulen in Bayern), in ihrem Bestand gefährdet. Denn durch das Altenpflegegesetz wird das quasi-duale Ausbildungssystem eingeführt. Nach dem Schulrecht Bayerns wären die Altenpflegeschulen demnach nicht mehr als Fachschulen, sondern als Berufsfachschulen einzurichten. Dies hätte finanzielle Konsequenzen für die Schulträger. Sämtliche Altenpflegeschulen Bayerns stehen in nichtstaatlicher Trägerschaft und bekommen zur Zeit einen Betriebszuschuss von 90 Prozent. Nach einer Umwandlung von Fachschulen in Berufsfachschulen reduzierte sich dieser auf 70 Prozent. Zudem wäre der Schulbetrieb zu verändern. Durch die Einführung des Altenpflegegesetzes entstehen voraussichtlich Blockzeiten, während derer die Auszubildenden in den Pflegeeinrichtungen ausgebildet werden und die Schulen nur einmal wöchentlich besuchen. Die daraus folgenden "Leerzeiten" des Lehrpersonals dürften insbesondere bei den Pflegefachkräften zu einer Verringerung der Lehrstundenzahl bis hin zu Entlassungen führen. Dieser erhebliche Eingriff in das Berufs- und Privatleben der Lehrkräfte könnte nicht rückgängig gemacht werden, wenn sich der Normenkontrollantrag später als begründet erwiese.

Wie der Senat weiter ausführt, ist zu erwarten, dass die Unsicherheit während der Dauer des Normenkontrollverfahrens und die Umstrukturierungen zu einem erheblichen Rückgang der Schülerzahlen mit weiteren Konsequenzen für die Schulen und das Lehrpersonal während der Verfahrensdauer führen würden.

Ein gewisser Teil der so entstehenden Nachteile könnte zwar durch Maßnahmen der Landesregierung für den Fall, dass der Normenkontrollantrag sich als begründet erweist, gemildert werden. Dies kann aber in der Folgenabwägung nicht berücksichtigt werden; es würde im Ergebnis zu einer Verpflichtung der Länder führen, trotz entgegenstehender eigener Gesetzgebungskompetenz zeitweise eine Parallelausbildung durchzuführen, die sie einer verfassungswidrigen Bundesregelung verdankten. Eine solche Verpflichtung kann auch aus dem Grundsatz der Bundestreue nicht hergeleitet werden und würde die Zumutbarkeitsgrenze deutlich überschreiten.

Würde dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben und hätte der Normenkontrollantrag in der Hauptsache keinen Erfolg, so bliebe die gegenwärtige Rechtslage länger als geplant in Kraft. Die Ausbildung zu den Berufen in der Altenpflege würde dann nach den länderrechtlichen Regelungen einstweilen fortgesetzt werden. Damit würde die mit dem Bundesgesetz beabsichtigte Umsetzung der Qualitätsstandards nicht erfüllt. Die Beendigung der Ausbildung und nachfolgende Arbeitsmöglichkeiten der Ausgebildeten in den Berufen der Altenpflege wären aber aufgrund der Übergangsregelungen des Altenpflegegesetzes gesichert. Weitere erhebliche Nachteile, die über die verzögerte Verwirklichung des hinter der gesetzlichen Regelung stehenden Pflegekonzepts hinausgehen, wären nicht zu befürchten, wie der Senat darlegt. Im Hinblick auf womöglich vergebliche Bemühungen derjenigen Länder, die mit der Umsetzung des Bundesgesetzes bereits begonnen haben, ist davon auszugehen, dass jedenfalls ein Teil der jetzt getroffenen Vorbereitungen nicht vergeblich gewesen ist.

Aus der Folgenabwägung ergibt sich, das der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung dringend geboten ist. Dies bezieht sich nicht nur auf den am 1. August in Kraft tretenden Teil des Gesetzes, sondern auch auf die bereits am Tag nach der Verkündung in Kraft getretenen Vorschriften.

Karlsruhe, den 29. Mai 2001