Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Zum Rechtsschutz bei Abschiebungshaft

Pressemitteilung Nr. 16/2002 vom 15. Februar 2002

Beschluss vom 05. Dezember 2001
2 BvR 527/99

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 5. Dezember 2001 klar gestellt, dass in Abschiebungshaft genommene Ausländer auch nach Beendigung der Haft Anspruch darauf haben, die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme gerichtlich vollständig überprüfen zu lassen.

1. Der Entscheidung liegen drei Verfassungsbeschwerden (Vb) zugrunde. Alle drei Beschwerdeführer (Bf) waren auf richterliche Anordnung in Abschiebungshaft genommen worden und hatten hiergegen sofortige Beschwerde eingelegt.

Der Bf zu 1 wurde nach einer Woche abgeschoben, das Landgericht (LG) wies seine Beschwerde fünf Tage später als unzulässig zurück. Die dagegen eingelegte sofortige weitere Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht (OLG) als unzulässig zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde des Bf zu 2 wurde vom LG als unbegründet zurückgewiesen. Dieser Bf wurde rund zwei Wochen später aufgrund einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung aus der Haft entlassen. Das OLG wies sein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des LG als unzulässig zurück.

Der Bf zu 3 saß insgesamt rund ein Jahr in Abschiebungshaft. Nach einer ersten Haftanordnung vom November wurde die Haft im April um drei Monate verlängert. Das LG wies die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde zunächst als unbegründet zurück, diese Entscheidung wurde vom OLG aufgehoben und das Verfahren an das LG zurückverwiesen. Dieses wies die sofortige Beschwerde nach weiterer Sachaufklärung wiederum zurück. Anschließend wurde erneute Sicherungshaft für weitere drei Monate angeordnet, nach deren Ablauf der Bf zu 3 aus der Haft entlassen wurde. Das OLG wies die sofortige weitere Beschwerde gegen die Haftanordnung vom April als unzulässig zurück.

Alle OLG-Entscheidungen sind damit begründet, dass die Bf kein Rechtsschutzbedürfnis für die Überprüfung der Haftanordnungen mehr hätten, da die Haft aus unterschiedlichen Gründen im Zeitpunkt der OLG-Entscheidung nicht mehr fortbestanden habe. Eine Fortsetzung der Verfahren zu dem Zweck, die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidungen nach deren Erledigung festzustellen, sei im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht vorgesehen. Hier dienten Rechtsmittel lediglich dazu, eine noch vorhandene Beschwer zu beseitigen. Zwar sei von der Rechtsprechung in verschiedenen Fällen eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung zugelassen worden, etwa bei der Wohnungsdurchsuchung oder der präventiven Ingewahrsamnahme. Die Abschiebungshaft dauere jedoch typischerweise so lange, dass die Gefahr des Leerlaufens der eröffneten Rechtsmittel nicht bestünde. Dabei sei nicht auf Einzelfälle, sondern darauf abzustellen, ob die Maßnahmen ihrer Natur nach häufig vor gerichtlicher Überprüfung schon wieder beendet seien.

2. Der Zweite Senat hat die Vb für zulässig und begründet erklärt. Zwar war die Abschiebungshaft jeweils beendet, wegen des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs in Gestalt der Freiheitsentziehung haben die Bf jedoch ein schutzwürdiges Interesse daran, die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen auch nach ihrer Beendigung feststellen zu lassen. Der Senat wiederholt seine Rechtsprechung, dass aus Art. 19 Abs. 4 GG - der Garantie effektiven Rechtsschutzes - kein Anspruch darauf folgt, dass die jeweilige Prozessordnung einen Instanzenzug vorsieht. Ist aber eine Rechtsmittelinstanz in der einschlägigen Prozessordnung vorgesehen, darf das Rechtsmittelgericht diese nicht so auslegen, dass die Möglichkeit, alle gerichtlich vorgesehenen Entscheidungen zu erlangen, praktisch leer läuft.

Grundsätzlich ist es mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes vereinbar, wenn von den Gerichten ein Rechtsschutzbedürfnis als Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Antrages verlangt wird. Auch begegnet es keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, den Wegfall dieses Rechtsschutzinteresses in der Regel anzunehmen, wenn die zugrunde liegende Angelegenheit sich erledigt hat. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht, dass die Gerichte Auskunft über die Rechtslage geben, wenn dies praktisch keine Konsequenzen mehr hat. Anders liegt der Fall jedoch, wenn der Betroffene ein schutzwürdiges Feststellungsinteresse hat, z. B. weil Wiederholungsgefahr droht oder eine diskriminierende Fortwirkung der Maßnahme zu befürchten ist.

Wie das Bundesverfassungsgericht schon bislang festgestellt hat, ist ein Feststellungsinteresse bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen insbesondere anzunehmen, wenn die angegriffene Maßnahme (z. B. Wohnungsdurchsuchungen nach der StPO oder Freiheitsentziehungen nach dem FGG) typischerweise nur so kurz dauert, dass die nach der Prozessordnung vorgesehene letzte Instanz während dieser Zeit nicht mehr erreicht werden kann.

So liegt der Fall bei Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht; diese wird in der Regel jeweils für drei Monate angeordnet (§ 57 Abs. 2 AuslG) und die Gerichte sind typischerweise in der Lage, während dieser Zeit über Rechtsmittel zu entscheiden.

Bei der Freiheitsentziehung kann es hierauf jedoch nicht entscheidend ankommen. Die Inhaftierung einer Person ist ein schwerwiegender Eingriff in das besonders hochrangige Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Zudem kann jede Inhaftierung eine diskriminierende Wirkung entfalten, denn die staatlich angeordnete Freiheitsentziehung lässt stets vermuten, dass der Betroffene sich rechtswidrig verhalten hat oder zu verhalten beabsichtigt. Der Rechtsschutz gegen die jeden Betroffenen im Kern seiner Persönlichkeit berührende Inhaftierungsmaßnahme kann nicht davon abhängen, wann diese Maßnahme sich erledigt oder ob nach der Prozessordnung typischerweise Rechtsschutz vor Ende der Haft erlangt werden kann. Vielmehr besteht im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen gegebene Rehabilitierungsinteresse ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer solchen Maßnahme auch nach deren Beendigung.

Die Oberlandesgerichte durften daher die Rechtsmittel in den Ausgangsverfahren nicht wegen angeblichen Fortfalls des Rechtsschutzinteresses als unzulässig verwerfen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidungen aufgehoben und die Verfahren an die zuständigen Gerichte zurückverwiesen.

Karlsruhe, den 15. Februar 2002