Bundesverfassungsgericht

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Ungleiche Besteuerung bei Renten und Pensionen verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 28/2002 vom 6. März 2002

Urteil vom 06. März 2002
2 BvL 17/99

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am heutigen Mittwoch sein Urteil zur ungleichen Besteuerung von Renten und Pensionen verkündet.

Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2001 hat das Bundesverfassungsgericht für Recht erkannt, dass § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes ab dem Veranlagungszeitraum 1996 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, soweit Versorgungsbezüge bis auf einen Versorgungsfreibetrag von höchstens insgesamt 6000 DM zu den steuerpflichtigen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit gehören und andererseits Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur mit Ertragsanteilen besteuert werden, deren Höhe unabhängig davon festgesetzt ist, in welchem Umfang dem Rentenbezug Beitragsleistungen der Versicherten aus versteuertem Einkommen vorangegangen sind. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens mit Wirkung zum 1. Januar 2005 eine Neuregelung zu treffen. § 19 Einkommensteuergesetz bleibt bis zum Inkrafttreten einer solchen, längstens mit Wirkung bis zum 31. Dezember 2004 weiter anwendbar.

Zum Hintergrund des Verfahrens wird auf die Pressemitteilung Nr. 89/2001 vom 12. September 2001 hingewiesen.

Der Zweite Senat führt zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen aus:

I.

Zunächst stellt der Senat fest, dass es bei der verfassungsrechtlichen Prüfung der hier einschlägigen Normen des Einkommensteuergesetzes am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ausschließlich auf die einkommensteuerliche Belastung ankommt, die diese Normen bei verschiedenen Steuerpflichtigen bewirken. Die am Maßstab des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu untersuchende Frage ist, wie die jeweiligen Bruttobezüge be- bzw. entlastet werden. Nicht hingegen kann in diesem Rahmen darauf abgestellt werden, wie sich die jeweilige Nettoversorgung der Rentner und Pensionäre zueinander verhält. Es ist also eine steuerrechtsimmanente Betrachtungsweise einzunehmen.

1. Zwar kann es unter sozialstaatlichen oder beamtenversorgungsrechtlichen Aspekten entscheidend auf die Nettoausstattung ankommen, nicht aber bei der Prüfung einer Steuernorm anhand von Art. 3 Abs. 1 GG. Insoweit fehlt es nämlich sowohl an einer erkennbaren Kompensationsabsicht des Gesetzgebers als auch an der objektiven Eignung der Ertragsanteilsbesteuerung, zum Ausgleich etwaiger rentenrechtlich bedingter Versorgungsdefizite beizutragen. Wie das Gericht ausführt, ist es dem Gesetzgeber grundsätzlich unbenommen, auch im Steuerrecht nichtfiskalische Lenkungs- und Förderungsziele zu verfolgen. Hierfür muss aber eine erkennbare gesetzgeberische Entscheidung vorliegen, an der es im Hinblick auf die Rentenbesteuerung fehlt. Die Einbeziehung der Renten in die Ertragsanteilsbesteuerung sollte bei ihrer Einführung nicht die Sozialversicherungsrentner steuerlich begünstigen. Dies war schon deshalb nicht erforderlich, weil die Renten damals so niedrig waren, dass sie in der Regel nicht der Besteuerung unterlagen. Ziel der Einführung der Ertragsanteilsbesteuerung war, die systemwidrige Besteuerung der Kapitalrückzahlung zu beseitigen. Erreicht werden sollte die gleichheitsgerechte Erfassung von Einkünften, d. h. Vermögenserträgen, während Vermögensumschichtungen steuerfrei bleiben sollen.

2. Abgesehen davon wäre - wenn der Gesetzgeber möglicherweise versorgungsrechtliche Nachteile der Rentner kompensieren wollte - erforderlich, dass solche Nachteile tatsächlich festgestellt und die steuerlichen Vergünstigungen auf sie abgestimmt worden sind. Auch daran fehlt es hier. Die Alterssicherungssysteme sind derart komplex, dass es unmöglich ist, gleichmäßige Nachteile der Rentenversorgung gegenüber der Beamtenversorgung festzustellen.

Ein Vergleich der Systeme in der Phase des Aufbaus des Versorgungsanspruchs müsste folgendes berücksichtigen:

a) Versicherungspflichtige Arbeitnehmer zahlen einen direkten Beitrag zu ihrer Altersversorgung. Dies tun Beamte zwar nicht, bei wirtschaftlicher Betrachtung besteht jedoch kein einschneidender Unterschied zwischen beiden Gruppen. Beide erhalten von ihrem Arbeitgeber bzw. Dienstherrn eine Anwartschaft für die Altersversorgung als Gegenwert für erbrachte Dienstleistung. Bei Beamten berücksichtigt der Dienstherr bereits bei der Gehaltsfestsetzung die von ihm zu tragenden Versorgungslasten. Insofern gilt für beide Gruppen, dass sie für ihre Arbeitsleistung einerseits ein verfügbares Gehalt bekommen, andererseits einen Anteil nicht verfügbarer Versorgungsanwartschaften erhalten. Ob eine Gruppe durch den Versorgungsaufbau stärker belastet wird als die andere lässt sich nur in Beziehung zum Wert des Versorgungsanspruches feststellen. Es wäre also zu überprüfen: Wie ist die "Rendite"? Dabei kann eine Benachteiligung gegebenenfalls in zu hohen "Beiträgen" oder zu niedrigen Versorgungsbezügen liegen. Die Belastung in der Aufbauphase ist also dem Gewinn in der Auszahlungsphase gegenüber zu stellen.

b) Dieser Systemvergleich in der Auszahlungsphase gestaltet sich schwierig, weil in beiden Gruppen sehr unterschiedliche Variablen die Höhe der Versorgung bestimmen. Die Höhe der Rente richtet sich maßgeblich nach drei Faktoren.

Den Entgeltpunkten (die von der Höhe und Dauer der einkommensabhängigen Versicherungsbeiträge beeinflusst werden), dem Rentenartfaktor (Faktor 1,0 für Altersrente und Erwerbsunfähigkeitsrente; 0,6667 für Berufsunfähigkeitsrente) und dem aktuellen Rentenwert, der jährlich durch die Bundesregierung nach Maßgabe der Nettolohnentwicklung festgelegt wird.

Die Höhe der Pensionen hingegen hängt maßgeblich von der Höhe des letzten ruhegehaltsfähigen Gehalts ab; weiterer Faktor ist die Dauer der Dienstzeit. Die individuelle Erwerbsbiografie des einzelnen Beamten spielt insoweit keine Rolle. Wollte man eine verlässliche Vergleichsgrundlage gewinnen, müsste eine Vielzahl von Fallbeispielen gebildet werden, die hinsichtlich Erwerbsverlauf (Dauer, familien- oder arbeitsmarktbedingte Unterbrechung, Einkommenshöhe) sowie Familienstand und Kinderzahl gegenüber gestellt werden müsste.

Ein Vergleich wird weiter erschwert durch die Vielzahl unterschiedlicher Renten- und Versorgungsarten. In der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es bei den Altersrenten die Regelaltersrente (ab 65), die Altersrente für Frauen (ab 60), die Altersrente für langjährig Versicherte (ab 63), die Altersrente für Schwerbehinderte, Berufs- oder Erwerbsunfähige (ab 60) und die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (ab 60); zusätzlich sind verschiedene Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Berufsunfähigkeit bei einzelnen Gruppen zu berücksichtigen.

Bei der Beamtenversorgung ist zu differenzieren zwischen der Versetzung in den Ruhestand wegen Erreichens der Regelaltersgrenze (65), wegen Erreichens einer besonderen Altersgrenze (60 z. B. im Polizeidienst), auf Antrag nach Erreichen der allgemeinen Antragsaltersgrenze (62) oder der besonderen Antragsaltersgrenze bei Schwerbehinderung (60), wegen Dienstunfähigkeit, aufgrund einer Vorruhestandsregelung oder aus sonstigen Gründen.

Betrachtet man die gerundeten Zahlen für 1996, ist festzustellen, dass diese Vielfalt der Ausgestaltungsmöglichkeiten im großen Umfang in der Realität widergespiegelt wird:

In den alten Ländern waren bei 878.000 Rentnern 218.000 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und 660.000 wegen Alters vertreten. Die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entfielen auf 28.000 Berufsunfähigkeitsrenten nach knappschaftlicher Beschäftigung, 179.000 Erwerbsunfähigkeitsrenten und 9.000 erweiterte Erwerbsunfähigkeitsrenten. Die Altersrenten verteilten sich auf 262.000 Regelaltersrenten, 73.000 Altersrenten für langjährig Versicherte, 47.000 Altersrenten für Schwerbehinderte, 135.000 Altersrenten wegen Arbeitslosigkeit und 141.000 Altersrenten für Frauen.

In den neuen Ländern standen bei 261.000 Rentnern 65.000 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 196.000 Altersrenten gegenüber. Unter den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit waren die Berufsunfähigkeitsrenten nach knappschaftlicher Beschäftigung (4.000) und die Erwerbsunfähigkeitsrenten (56.000) zahlenmäßig am stärksten vertreten. Die Altersrenten bestanden im Wesentlichen aus Regelaltersrenten (12.000), Altersrenten für langjährig Versicherte (9.000), Altersrenten wegen Arbeitslosigkeit (89.000) und Altersrente für Frauen (80.000).

Ein Blick auf die Gründe für die Versetzung in den Ruhestand von Beamten etc. für das Jahr 1993 ergibt folgendes Bild:

Erreichen der Regelaltersgrenze 11,5 %; Erreichen einer besonderen Altersgrenze 9,5 %; Erreichen der allgemeinen Antragsaltersgrenze 30,3 %; Erreichen der besonderen Altersgrenze bei Schwerbehinderung 4,3 %; Dienstunfähigkeit 39,4 %, Vorruhestandsregelung 3,4 %, sonstige Gründe 1,6 %. Diese Zahlen haben sich auch für spätere Jahre nicht entscheidend verändert.

Im Einzelnen sind sowohl die Tatbestände für den Anspruch auf Versicherungsrente oder Versorgung als auch die Rechtsfolgen unterschiedlich gefasst. So haben z. B. Frauen in der gesetzlichen Rentenversicherung die Möglichkeit, schon mit Vollendung des sechzigsten Lebensjahres ungekürzte Altersversicherungsbezüge zu beanspruchen. Demgegenüber haben weibliche Beamte auf Antrag nur unter Hinnahme von Abzügen Altersversorgungsansprüche. Darüber hinaus bestehen erhebliche Unterschiede in den Regelungen über die Anrechenbarkeit anderweitiger Einkünfte.

c) Vor diesem Hintergrund stellt der Senat fest, dass die Ertragsanteilsbesteuerung als Instrument einer gleichheitsgerecht ausgestalteten Kompensation möglicher rentenrechtlicher Nachteile nicht geeignet ist. Denn ob sich diese Besteuerung als "Vergünstigung" erweist, hängt ausschließlich davon ab, inwieweit die gesetzliche Unterscheidung zwischen Kapitalrückzahlung und Ertragsanteil den individuellen Gegebenheiten entspricht. Ob und wie sehr eventuelle Vergünstigungseffekte mit entsprechenden rentenrechtlichen Nachteilen korrespondieren, hängt wiederum von den unterschiedlichen Konstellationen innerhalb der verschiedenen Systeme ab. Gleichheitsgerechte Ausgleichseffekte der Ertragsanteilsbesteuerung können sich zwar ergeben, müssen es aber nicht.

II.

Steht also fest, dass für die Gleichheitsprüfung ein rein steuerrechtlicher Bezugsrahmen zu wählen ist, ist für das geltende Recht folgender verfassungsrechtlicher Gesichtspunkt maßgebend: Nur der erstmalige Zufluss von Einkommen darf besteuert werden, nicht die Umschichtung oder der Konsum bereits vorhandenen Vermögens. Das derzeitige System der Rentenbesteuerung orientiert sich am Bild des Kaufs einer Leibrente aus versteuertem Einkommen. Ist dieses Bild richtig, dass nämlich die Rente während der Erwerbsphase aus versteuertem Einkommen des Arbeitnehmers maßgeblich finanziert wird, ist die Ertragsanteilsbesteuerung systemkonform. Stellt sich jedoch heraus, dass die Rechtsgrundlage und die Finanzierung der Renten der gesetzlichen Vorstellung nicht entsprechen, ist die steuerliche Ungleichbehandlung der "nachträglichen Einkünfte" von Arbeitnehmern und Beamten nicht gerechtfertigt.

Der Senat stellt fest, dass das gegenwärtige Besteuerungssystem den von ihm noch im Einzelnen ausgeführten Maßstäben nicht entspricht. Das Bild einer entgeltlich erworbenen Rente entspricht noch nicht einmal zur Hälfte der Rentenzahlung der Realität.

Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Rente besteht aus drei Finanzierungsanteilen: Dem Arbeitnehmeranteil, dem Arbeitgeberanteil und dem Bundeszuschuss. Hierzu stellt das Gericht fest, dass hinsichtlich der Arbeitnehmerbeiträge von einer steuerlichen Mehrbelastung im Grundsatz ausgegangen werden kann. Hinsichtlich der Arbeitgeberbeiträge ist dies jedoch nicht der Fall. Der Arbeitgeber führt sie an den Versicherungsträger ab, sie führen während der Erwerbsphase nicht zu steuerpflichtigem Einkommen des Arbeitnehmers.

Auch beim Bundeszuschuss ist keine Rechtfertigung dafür ersichtlich, ihn als Rückzahlung versteuerten Einkommens zu bewerten. Eine staatliche Transferleistung ist grundsätzlich steuerbares Einkommen. Daher kann lediglich der auf die Arbeitnehmerbeiträge entfallende Anteil der Rente als Rückzahlung bereits versteuerten Einkommens bewertet werden. Ein sachlicher Grund, die Rente darüber hinaus anders zu bewerten als die Versorgungsbezüge und steuerfrei zu lassen, besteht nicht.

III.

Das Gericht hat die entsprechende Norm des Einkommensteuergesetzes nicht für nichtig, sondern lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Sie ist bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung weiter anzuwenden. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, die Rechtslage rückwirkend, bezogen auf das Veranlagungsjahr 1996 zu bereinigen. Ein rückwirkender Abbau der Vergünstigungen bei der Besteuerung der Rentner kommt aus Verfassungsgründen von vornherein nicht in Betracht. Auch eine rückwirkende Besserstellung der Ruhestandsbeamten scheidet als verfassungsgemäße Lösung aus. Aufgabe des Gesetzgebers wird es sein, sich für ein Lösungsmodell zu entscheiden und dieses folgerichtig auszugestalten. Dabei sind die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Altersbezügen so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird.

Karlsruhe, den 6. März 2002