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Altenpflegegesetz hat im Wesentlichen Bestand

Pressemitteilung Nr. 94/2002 vom 24. Oktober 2002

Urteil vom 24. Oktober 2002
2 BvF 1/01

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute sein Urteil in dem Normenkontrollverfahren der Bayerischen Staatsregierung zum Altenpflegegesetz verkündet. Der Zweite Senat hat einstimmig festgestellt, dass die Regelungen des Altenpflegegesetzes für die Ausbildung zu den Berufen der Altenpflegehelferin und des Altenpflegehelfers mit Art. 70, 74 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig sind. Hinsichtlich der wesentlichen Teile des Altenpflegegesetzes, die den Zugang, die Ausbildung und die Ausbildungsinhalte für den Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers regeln, ist der Normenkontrollantrag jedoch ohne Erfolg geblieben.

I. Zum Hintergrund des Verfahrens:

1. Im Altenpflegegesetz wird die Erlaubnis geregelt, die Berufsbezeichnungen "Altenpflegerin/Altenpfleger" oder "Altenpflegehelferin/Altenpflegehelfer" zu führen; zugleich werden diese Berufsbezeichnungen unter den Schutz des Gesetzes gestellt. Zudem regelt das Gesetz die Ziele, die Dauer, die Art und die Träger der Ausbildung in der Altenpflege, die Ausformung des Ausbildungsvertrags, die Durchführung der Ausbildung, die Ausbildungsvergütung und weitere Einzelheiten des Ausbildungsverhältnisses. Das Gesetz enthält weiter Regelungen zur "Ausbildung in der Altenpflegehilfe". 2. Vordringlicher Zweck des Altenpflegegesetzes ist es, die Ausbildung zu den Berufen in der Altenpflege erstmals bundeseinheitlich zu regeln. Die Aufgaben der Altenpflegerinnen und Altenpfleger werden darin gesehen, älteren Menschen dabei zu helfen, ihre körperliche, geistige und seelische Gesundheit zu fördern, zu erhalten und wieder zu erlangen. In diesem Rahmen soll die Altenpflege ein breites Spektrum an Angeboten persönlicher Beratung, Betreuung und Pflege eröffnen. Das Altenpflegegesetz soll bundesweit ein einheitliches Ausbildungsniveau sicherstellen und das Berufsbild attraktiver gestalten, um so die bisherigen, aus der Vielzahl der unterschiedlichen Landesregelungen folgenden Defizite auszugleichen und den bestehenden Fachkräftemangel zu beseitigen. Die bundesweite Einführung einer Erstausbildung zu den Berufen in der Altenpflege und die dreijährige Dauer der Ausbildung sollen - neben Veränderungen und Erweiterungen der Ausbildungsinhalte - ebenso wie die finanzielle Absicherung der Auszubildenden die Attraktivität des Berufs erhöhen und ihn anderen Berufen im Bereich Gesundheit angleichen. Für die Ausbildung zu dem Beruf der Altenpflegehelferin und des Altenpflegehelfers enthält das Gesetz eine Rahmenvorgabe für die Länder, die eine solche Ausbildung für erforderlich halten.

II. Zur Begründung seiner Entscheidung führt der Senat aus:

Für den Teil des Altenpflegegesetzes über die Ausbildung zu den Berufen der Altenpflegehilfe hat der Bund keine Gesetzgebungskompetenz, weil sich die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes nicht auf diesen Bereich erstreckt. Der Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers dagegen ist, anders als der Beruf des Altenpflegehelfers und der Altenpflegehelferin, ein "anderer Heilberuf" i.S.d. Art. 74 Abs.1 Nr. 19 GG und das Altenpflegegesetz regelt die Zulassung zu ihm. Auf diese Materie erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes.

1. Zwar werden die Altenpfleger nicht ausdrücklich von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG erfasst und wurden sie bislang auf Länderebene den sozialpflegerischen Berufen zugeordnet. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es jedoch, dem Bund insgesamt die Gesetzgebungskompetenz für die Zulassung zu Heilberufen zu eröffnen. Danach ist die Altenpflege in einer Gesamtbetrachtung den Heilberufen zuzuordnen. Das Berufsbild der Altenpflege hat sich in den fachlichen Anforderungen und den praktischen Voraussetzungen inzwischen so weit denjenigen der Heilberufe angenähert, dass der Gesetzgeber diese Entwicklung mit einfachgesetzlichen Vorgaben weiterführen durfte, indem er dem Berufsbild der Altenpflege einen klaren heilkundlichen Schwerpunkt verleiht. Damit geht der sozial-pflegerische Anteil zwar nicht verloren, er wird kompetenzrechtlich aber vom heilkundlichen Teil " mitgezogen ", der das ganzheitliche Konzept des Bundesgesetzgebers prägt. Für die Altenpflegehelfer ist ein heilkundlicher Schwerpunkt hingegen nicht erkennbar, sodass die sie betreffenden Regelungen schon aus diesem Grund als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Abs.1 Nr.19 GG nicht in Betracht kommen. Die im Altenpflegegesetz enthaltenen Bestimmungen über die Berufsausbildung der Altenpfleger regeln auch die "Zulassung" im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG und greifen nicht in unzulässiger Weise in die Kulturhoheit der Länder ein.

2. Das Altenpflegegesetz nimmt in seinen wesentlichen Bestandteilen auch die zweite Kompetenzhürde des Grundgesetzes, Art. 72 Abs. 2 GG. Die Regelungen über die Berufsausbildung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger sind zur Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse nach Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich. a) Das Bundesverfassungsgericht hatte sich erstmalig nach der Grundgesetzänderung von 1994 grundlegend mit der Vorschrift des Art. 72 GG zu befassen. Dieser Norm kommt als Kompetenzverteilungsregel auf dem Feld der Gesetzgebung für die Balance zwischen Bund und Ländern eine besondere Bedeutung zu. Danach sind die Länder für die Gesetzgebung grundsätzlich zuständig und bleiben es, wenn der Bund untätig geblieben ist. Erst dann, wenn der Bund eine in Art. 74 oder Art. 74 a GG genannte Materie an sich zieht, ist sie für die Länder gesperrt. Art. 72 Abs. 2 GG wiederum begrenzt die Kompetenz des Bundes und bindet sie an bestimmte Voraussetzungen. Der Zweite Senat hat einen Kontrollmaßstab für die Einhaltung dieser materiellen Voraussetzungen aufgestellt und sich deutlich von der früheren Rechtsprechung gelöst. Dem Bundesgesetzgeber wird nicht mehr ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle weitgehend freier Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG eingeräumt. Vielmehr wird eine inhaltliche Kontrolle durch das Gericht für zulässig und notwendig erachtet. Der Senat hat die drei in Art. 72 Abs.2 GG benannten Ziele zulässiger konkurrierender Bundesgesetzgebung konkretisiert. Dabei handelt es sich um die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" im Bundesgebiet oder die "Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse": "Gleichwertige Lebensverhältnisse" werden nicht schon dann hergestellt, wenn es nur darum geht, bundeseinheitliche Regelungen in Kraft zu setzen. Es reicht für einen Eingriff in das grundsätzlich bestehende Gesetzgebungsrecht der Länder auch nicht aus, wenn es lediglich um irgendwelche Verbesserungen der Lebensverhältnisse, die immer möglich und wünschenswert sind, geht. Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist vielmehr erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge in beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet. Die "Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit" betrifft unmittelbar institutionelle Voraussetzungen des Bundesstaats und erst mittelbar die Lebensverhältnisse der Bürger. Eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene rechtfertigt ein rechtsvereinheitlichendes Bundesgesetz zur "Wahrung der Rechtseinheit" erst dann, wenn sie eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann. Die "Wahrung der Wirtschaftseinheit" liegt im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtssetzung geht. Der Erlass von Bundesgesetzen zur Wahrung der Wirtschaftseinheit steht dann im gesamtstaatlichen, also im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen.

b) Das Altenpflegegesetz entspricht diesen Maßstäben, soweit es die Ausbildung zum Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers regelt. Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Rechtsvereinheitlichung im Bereich der Altenpflege dient im gesamtstaatlichen Interesse der Wahrung der Wirtschaftseinheit. Im einzelnen führt der Senat dazu aus: Die bestehenden 17 Ausbildungsregelungen für die Altenpflege haben keine klaren Konturen. In allen Lehrplänen findet sich zwar ein Kern an Ausbildungsinhalten, die für das Profil der Altenpflege als grundlegend angesehen werden dürfen. In der praktischen Konkretisierung und Akzentuierung existieren aber erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern. Folglich gibt es derzeit keine einheitlichen Standards und deshalb auch keine allgemein verbindliche Qualifikation in der Altenpflegeausbildung. Das führt zu einer Benachteiligung der Altenpflegekräfte, die sich arbeitsmarktpolitisch negativ auswirkt. Das Altenpflegegesetz wird zwar den Mangel an fachlich qualifiziertem Personal allein nicht beheben können. Es ist aber ein zentraler Baustein in einem Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung der Personalgewinnung und Personalentwicklung von Pflegefachkräften. Eine bundeseinheitliche Regelung der Altenpflege stärkt die Attraktivität der Ausbildung und lässt damit eine Erhöhung des Fachkräfteanteils in der Altenpflege erwarten. Sie verspricht vor allem mehr Klarheit über die Kompetenzen der Altenpflegerinnen und Altenpfleger, was die Flexibilität ihrer Einsatzmöglichkeiten und ihre Mobilität verbessern wird. Es kommt zu einem einheitlichen Berufsbild, das den qualifikatorischen Anforderungen einer sich schnell verändernden Praxis weitgehend entspricht. Optionen, die sich auf ein klares Berufsbild stützen können, werden zum Qualifikations-, Qualitäts- und Attraktivitätsmerkmal.

Karlsruhe, den 24. Oktober 2002