Bundesverfassungsgericht

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Zum landesrechtlichen Verbot, neben der Gebietsbezeichnung "Facharzt für Allgemeinmedizin" eine weitere Gebietsbezeichnung zu führen

Pressemitteilung Nr. 99/2002 vom 21. November 2002

Beschluss vom 29. Oktober 2002
1 BvR 525/99

Ärzte mit der Gebietsbezeichnung Allgemeinmedizin, die sich in weiteren Gebieten spezialisieren und betätigen dürfen, sind berechtigt, dies öffentlich bekanntzugeben. Dies entschied der Erste Senat mit Beschluss vom 29. Oktober 2002.

1. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde (Vb) ist die berufsgerichtliche Verurteilung eines Arztes in Baden-Württemberg, der die Anerkennung als Kinderarzt und als Allgemeinmediziner besitzt (Beschwerdeführer; Bf). Er hatte sich als Arzt für Allgemeinmedizin niedergelassen. Neben der Gebietsbezeichnung "Allgemeinmedizin" führte er auf Briefbögen, Rezeptvordrucken und in Zeitungsanzeigen auch die Gebietsbezeichnung "Kinderarzt". Aufgrund einer Selbstanzeige wurde er mit einer Warnung gemaßregelt. Der zentrale Vorwurf bestand darin, dass er entgegen dem landesrechtlichen Verbot die Gebietsbezeichnung "Allgemeinmedizin" neben einer besonderen Gebietsbezeichnung geführt habe. Rechtsmittel blieben erfolglos. Dagegen richtete sich seine - erfolgreiche - Vb.

Zum Hintergrund: Zum Zeitpunkt der sog. Facharzt-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1972 galt ein striktes Verbot, mehr als eine Facharztbezeichnung zu führen. Das Bundesverfassungsgericht entschied damals, dass durch dieses Verbot solche Ärzte, die aufgrund ihrer Ausbildung berechtigt waren, mehrere Facharztbezeichnungen zu führen, unzumutbar eingeschränkt und in ihrer Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt wurden. Diese Entscheidung ging von den damaligen tatsächlichen Voraussetzungen einer sinnvollen Abgrenzung zwischen den praktischen Ärzten ohne Gebietsbezeichnung und den Fachärzten (damals 19 Fachgebiete und 5 Teilgebietsbezeichnungen) aus. Dies hat sich grundlegend verändert: Die vertragsärztliche Zulassung setzt inzwischen die Weiterbildung zum Facharzt voraus. Deshalb ist heute auch der Allgemeinarzt regelmäßig nach entsprechender Weiterbildung Facharzt für Allgemeinmedizin. Es existieren etwa 160 Weiterbildungsqualifikationen sowie 40 unterschiedliche Facharztbezeichnungen. Nach dem Stand vom 31. Dezember 2000 sind etwa neunzig Prozent der niedergelassenen Ärzte zum Facharzt weitergebildet, davon mehr als dreißig Prozent Allgemeinmediziner. Diese allein dürfen jedoch keine weitere Gebietsbezeichnung führen. Dies verbieten alle Ländergesetze mit Ausnahme desjenigen in Sachsen. § 39 Abs.3 des baden-württembergischen Kammergesetzes (vgl. Anlage) ist eine Reaktion auf die Facharzt-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

2. Der Erste Senat stellte fest, dass § 39 Abs. 3 Halbsatz 1 des baden-württembergischen Kammergesetzes in der Fassung vom 16. März 1995 und die darauf beruhenden berufsgerichtlichen Urteile den Bf in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in seiner freien Berufsausübung einschränken. Die berufsgerichtlichen Entscheidungen wurden aufgehoben, die Sache an das Bezirksberufsgericht für Ärzte zurückverwiesen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen Eingriffe in die Berufsfreiheit nicht weitergehen, als es die sie rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erfordern. Art. 12 Abs. 1 GG schützt auch die berufliche Außendarstellung der Grundrechtsträger, mit der den Nachfragern die erforderlichen Informationen für die Inanspruchnahme der Dienste vermittelt werden. Das Verbot, erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten, die in rechtmäßig erworbenen Titeln und Berufsbezeichnungen ihren Niederschlag gefunden haben, im Berufsleben zu nutzen, ist deshalb an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen.

Für das landesrechtliche Verbot, eine Doppelqualifikation kundzutun, fehlt es an tragfähigen berufsbezogenen Gründen des Gemeinwohls.

Bislang wurde als solcher Gemeinwohlbelang die Sicherstellung einer hohen Qualität der medizinischen Versorgung der Bevölkerung angesehen. Das Verbot der Doppelbezeichnung dient aber nicht dem Qualitätserhalt bei dem einzelnen Betroffenen. Es ist nicht erkennbar, inwiefern die medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet sein könnte, wenn einem Arzt mit Doppelqualifikation neben der Betätigung in beiden Bereichen erlaubt wird, seine beiden Qualifikationen auch nach außen kundzutun. Da der Arzt unbestrittenermaßen die Anerkennung als Facharzt für mehr als eine Fachrichtung erwerben darf, kann ihm nicht von vornherein abgesprochen werden, auch mehrere Fachgebiete wissenschaftlich und praktisch zu beherrschen. Wieso dann Gefahren in der Offenlegung der Mehrfachqualifikation liegen sollen, ist nicht ersichtlich.

Die Befürworter des Verbots der Doppelbezeichnung bringen weiter die Vermutung vor, der Facharzt für Allgemeinmedizin könne in diesem Bereich dem Fortbildungsgebot (Beibehaltung des Kenntnisstandes) nicht hinreichend genügen, wenn er sich daneben zusätzlich dauerhaft in einem weiteren Gebiet fortbilden müsse. Dieses Argument richtet sich jedoch eher gegen die Mehrfachqualifikation als gegen das Führen der Bezeichnung. Außerdem fehlen hierfür auch in der Sache nachvollziehbare Gründe. Zunächst überzeugt die Annahme besonderer Schwierigkeiten bei der Fortbildung nicht, wenn man deren Anforderungen mit denen der Weiterbildung vergleicht. Im Übrigen verbieten die berufsrechtlichen Regelungen auch nicht, dass sich ein Facharzt für Allgemeinmedizin, der zugleich Kinderarzt ist, als Kinderarzt niederlässt und die Facharztbezeichnung Allgemeinmedizin aufgibt. Daran wird deutlich, dass es dem angegriffenen Doppelbezeichnungsverbot in erster Linie um den mit der Ankündigung verbundenen Werbeeffekt, nicht aber um ein Tätigkeitsverbot mit Schutzfunktion für die Bevölkerung geht.

Schließlich führen zutreffende Angaben über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zu Gefährdungen des Gemeinwohlbelangs einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Derartige Hinweise befriedigen vielmehr das berechtigte Informationsbedürfnis der Patienten.

Im Jahre 1972 rechnete das Bundesverfassungsgericht zu den Gemeinwohlbelangen, die eine Trennung der Tätigkeitsbereiche von den Allgemeinärzten und Fachärzten erlaubten, noch die unerlässliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Gruppen. Mittlerweile haben sich die tatsächlicher Gegebenheiten jedoch so geändert, dass diesem Aspekt kein Gewicht mehr zukommt. Vor dreißig Jahren war das Ziel der Zusammenarbeit durch eine Trennung der Tätigkeitsfelder noch erreichbar. Damals führten mehr als die Hälfte der Ärzte keine Gebietsbezeichnung, die Fachärzte waren auf eine Überweisung durch die praktischen Ärzte angewiesen. Im Gegensatz dazu werden die Patienten heute fast nur noch durch Fachärzte behandelt. Diese Situation gilt auch für die Allgemeinmediziner, die größte unter den vierzig Facharztgruppen. Auch das ärztliche Selbstverständnis hat sich geändert. Dies bekräftigt die vertragsärztliche Zulassung, die als entscheidende wirtschaftliche Basis eines niedergelassenen Arztes regelmäßig die Weiterbildung zum Facharzt voraussetzt.

Schließlich lässt sich die nur den Allgemeinarzt treffende Beschränkung auf ein Gebiet nicht durch dessen hausärztliche Ausrichtung rechtfertigen. Denn auch Internisten und Kinderärzte sind überwiegend hausärztlich tätig. Auch die Typologie der Gebietsbezeichnungen lässt keine Unterscheidung zwischen Fachärzten im engeren und weiteren Sinn zu. Vielmehr überschneiden sich die Gebietsabgrenzungen vielfältig. Die vollständige Beschränkung des Allgemeinarztes auf sein Gebiet ist weiter nicht mit den Erfordernissen der Zusammenarbeit unter den Arztgruppen begründbar. Jede Gruppe trägt nämlich Verantwortung dafür, dass rechtzeitig Spezialisten hinzugezogen werden, wenn das Krankheitsbild dies erfordert. Die Beschränkung auf das eigene Fachgebiet ist vielmehr auf Ergänzung und damit auf die notwendige Zusammenarbeit der Fachgruppen angelegt. Insofern gilt für den Allgemeinmediziner nichts anderes als für andere Fachärzte. Die Beschränkung auf die Gebietsbezeichnung Allgemeinmedizin findet im heutigen Berufsrecht keine Basis mehr. Sie ist ein Relikt aus der Zeit, in der es eine Arbeitsteilung zwischen praktischen Ärzten und Fachärzten gab.

Karlsruhe, den 21. November 2002

Anlage zu Pressemitteilung Nr. 99/2002 vom 21. November 2002

§ 39 Abs. 3 des baden-württembergischen Kammergesetzes i. d. F. v. 16. März 1995

Erweiterung der Berufsbezeichnung

(1) und (2)........

(3) Die Gebietsbezeichnung "Allgemeinmedizin" darf nicht neben einer anderen Gebietsbezeichnung geführt werden; das gilt für die Führung der Bezeichnung "Praktischer Arzt" entsprechend.