Bundesverfassungsgericht

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Impfstoffversand- und Werbeverbot verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 13/2003 vom 25. Februar 2003

Beschluss vom 11. Februar 2003
1 BvR 1972/00

Das gesetzliche Verbot, Impfstoffe an Ärzte zu versenden und hierfür zu werben, verletzt die Apotheker in ihrem Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG). Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf die Verfassungsbeschwerden (Vb) zweier beschwerdeführender Apotheker (Bf). Die zugrundeliegenden Bestimmungen des Bundesarzneimittelgesetzes, der Apothekenbetriebsordnung und des Heilmittelwerbegesetzes sind mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig, soweit die genannten Normen dem Apotheker verbieten, Impfstoffe an Ärzte zu versenden und hierfür zu werben. Die auf den verfassungswidrigen Normen beruhenden Urteile der Fachgerichte wurden aufgehoben. Die Verfahren wurden an den Bundesgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.

1. Zum Sachverhalt:

Ein Bf hat seit 1994 überregional Impfstoffe sowie Preislisten und Bestellvordrucke für Ärzte versandt und mit diesem Versandhandel Jahresumsätze von 10 bis 12 Millionen DM erzielt. Im Ausgangsverfahren wurde er zur Unterlassung dieses als wettbewerbswidrig und wettbewerbschädigend angesehenen Verhaltens verurteilt. Rechtsmittel blieben erfolglos. Der andere Bf hat auf Bestellung in großem Umfang Impfstoffe an niedergelassene Ärzte, Gesundheitsämter, Justizvollzugsanstalten und ähnliche Einrichtungen versandt. Er hat damit Jahresumsätze in Höhe von mehreren Millionen DM erzielt. Rechtsmittel gegen eine ordnungsbehördliche Untersagungsverfügung blieben vor dem Oberverwaltungsgericht und dem Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen ohne Erfolg. Dagegen richteten sich die - erfolgreichen - Vb.

Zum Hintergrund: In der Zeit von 1976 bis 1994 konnten Ärzte alle Impfstoffe unmittelbar beim Großhandel bestellen. Aufgrund einer Änderung des Arzneimittelgesetzes dürfen seither Impfstoffe für so genannte Vorsorgeimpfungen wie sonstige Arzneimittel für den Endverbrauch nur aus der Apotheke bezogen werden. Sie dürfen nur in Apotheken und nicht im Wege des Versandes in Verkehr gebracht werden. Eine Ausnahme gilt nur bei Impfstoffen für unentgeltliche Schutzimpfungen oder soweit eine Abgabe zur Abwendung von Seuchen- oder Lebensgefahr erforderlich ist, um die es in den vorliegenden Fällen nicht ging. Die Apothekenbetriebsordnung enthält ebenfalls ein Verbot, Arzneimittel aus der Apotheke zu versenden; ein solches hat es zwischen 1968 bis 1987 nicht gegeben. Schließlich darf nach dem Heilmittelwerbegesetz seit 1965 der Versand apothekenpflichtiger Arzneimittel nicht beworben werden.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Eine gesetzliche Beschränkung der freien Berufstätigkeit muss nach Art. 12 Abs. 1 GG durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein. Das ist hier nicht der Fall.

Es ist nicht erkennbar, wie und wodurch das Verbot, Impfstoffe zwischen Apotheker und Arzt zu versenden, dem legitimen Gemeinwohlbelang des Gesundheitsschutzes dienen kann. Nicht nachvollziehbar ist, wie dadurch Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung bei Vorsorgeimpfungen begegnet werden könnte. Der Gesetzgeber hat nicht deutlich werden lassen, warum das Arzneimittelgesetz zwar den Versand von Impfstoffen unter anderem für unentgeltliche Schutzimpfungen gestattet, nicht hingegen für Vorsorgeimpfungen, obwohl es keine Unterschiede zwischen den Impfstoffgruppen hinsichtlich des Beratungsbedarfs oder der Transportsicherheit gibt. Auch die Apothekenbetriebsordnung lässt im Einzelfall die Versendung aus der Apotheke oder die Zustellung durch Boten zu und sieht bei diesem Vertriebsweg keine Gesundheitsbelange gefährdet.

Das Versandverbot gewährleistet auch nicht ansonsten den Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Die Arzneimittelsicherheit betrifft die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel und ist ein legitimer Belang des Gemeinwohls. Zwischen ihr und dem Verbot des Impfstoffversands besteht jedoch kein hinreichender Zusammenhang. Die Arzneimittelsicherheit konnte deshalb weder für die Einführung der Apothekenpflicht der Impfstoffe noch des Versandverbots Rechtfertigungsgrund sein. Arzneimittelsicherheit wird vor allem durch die Festlegung der Anforderungen an die Arzneimittel und die Vorgaben für ihre Herstellung und Zulassung sichergestellt. Ihr dient auch die grundsätzliche Apothekenpflicht und die Festlegung des Vertriebswegs. Die Prüfung, ob das Versandverbot für Impfstoffe für die Verbesserung und Gewährleistung der Arzneimittelsicherheit Bedeutung hat, hat von den tatsächlichen Gegebenheiten auszugehen: Impfstoffe werden regelmäßig vom Arzt am Patienten angewendet. Dadurch verlängert sich der Vertriebsweg um die Abgabe zwischen Apotheker und Arzt, es sei denn, der Patient verschafft dem Arzt auf Verordnung hin den Impfstoff vor oder nach der Impfung. Dies führt zu folgendem Ergebnis:

Transportgefahren soll mit den Regelungen über die Vertriebsform nicht begegnet werden. Zwar kann es beim Versand der - thermolabilen - Impfstoffe zu einer Unterbrechung der Kühlkette kommen mit dem Risiko, dass der Impfstoff seine Wirksamkeit einbüßt und eventuell sogar gesundheitliche Schäden beim Patienten verursacht. Diese Transportrisiken entstehen jedoch weder erstmals noch in besonderem Maße bei einer Versendung zwischen Apotheke und Arzt. Hersteller, Großhandel und Apotheken sind zur Sicherstellung der erforderlichen Kühlung rechtlich verpflichtet. Auf den Empfänger kommt es dabei nicht an. Der Versand zwischen Apotheker und Arzt ist nicht risikoreicher als der zwischen Großhandel und Apotheker oder der zwischen Großhandel und Arzt.

Auch das Versandverbot der Apothekenvertriebsordnung lässt sich nicht mit der Arzneimittelsicherheit rechtfertigen. Es soll Risiken vermeiden, die mit der Ver- oder Anwendung des Arzneimittels durch den Endverbraucher zusammenhängen und sich durch Beratung vermindern lassen. Ein Zusammenhang mit den besonderen Risiken des Transports thermolabiler Impfstoffe lässt sich dagegen nicht herstellen. Vielmehr dürfte die Arzneimittelsicherheit bei Abholung durch den Patienten weit eher gefährdet sein als bei einer professionellen Lieferung durch die Apotheke.

Das Versandverbot kann auch nicht mit den für die Gesundheit der Bevölkerung wichtigen Beratungs- und Informationsaufgaben des Apothekers begründet werden. Für das Versandverbot fehlt es an einem hinreichenden Bezug zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Dies wird insbesondere deutlich, wenn der bereits geimpfte Patient anschließend in der Apotheke Ersatzimpfstoff für den Arzt beschafft. Er bedarf keiner Beratung und Information mehr. Beratungsbedarf gegenüber den Ärzten wird es eher selten und nur ausnahmsweise geben. Die Ärzte tragen selbst für die Verschreibung und Anwendung der Arzneimittel im konkreten Einzelfall die volle Verantwortung und müssen nach ihrer fachlichen Ausbildung in der Lage sein, die Wirkungen und Risiken von Arzneimitteln zu erkennen. Ein eventueller Beratungsbedarf beim Arzt infolge der Unübersichtlichkeit des umfangreichen Arzneimittelmarkts wirkt sich auf die Frage der Vertriebsform des Impfstoffs nicht aus. Der Arzt kann auch bei der Versendung von Impfstoff schriftlich oder telefonisch beraten und informiert werden. Erkenntnisse über Gefährdungen infolge von Beratungsdefiziten gibt es weder aus der Zeit, in der es kein Versandverbot für Apotheker gab, noch aus der Zeit, als Ärzte alle Impfstoffe unmittelbar beim Großhandel bestellen konnten.

Schließlich wird auch die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung nicht infolge des Impfstoffversands beeinträchtigt. Die - tatsächlich erfolgte - Konzentration des Impfstoffversandes auf wenige Apotheken infolge des gesonderten Vertriebswegs entzieht den Apotheken nicht ihre wirtschaftliche Grundlage. Dies ergibt sich schon aus der geringen Zahl der Verordnungen im Impfstoffbereich, deren Umsatzanteil unter 0,2 vom Hundert liegt. Außerdem ist eine solche Entwicklung auch nicht beobachtet worden, als Impfstoffe in der Zeit von 1976 bis 1994 von der Apothekenpflicht freigestellt waren.

Da das Verbot des Impfstoffversands an Ärzte keine Gemeinwohlbelange fördert, verstößt auch das umfassende Verbot, für diese Vertriebsform zu werben, gegen Art. 12 Abs. 1 GG.

Karlsruhe, den 25. Februar 2003