Bundesverfassungsgericht

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Ausschluss des sog. biologischen Vaters vom Umgangsrecht und von der Berechtigung, die Vaterschaft eines anderen anzufechten, teilweise verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 31/2003 vom 29. April 2003

Beschluss vom 09. April 2003
1 BvR 1493/96

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 1600 BGB mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit nicht vereinbar ist, als er den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater eines Kindes (sog. biologischer Vater) ausnahmslos von der Anfechtung einer Vaterschaftsanerkennung ausschließt. Ferner hat der Erste Senat entschieden, dass § 1685 BGB mit Art. 6 Abs. 1 GG insoweit nicht vereinbar ist, als er in den Kreis der Umgangsberechtigten den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater eines Kindes auch dann nicht mit einbezieht, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht oder bestanden hat. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, dem entsprechend bis zum 30. April 2004 verfassungsgemäße Regelungen zu treffen. Bis zur gesetzlichen Neuregelung sind gerichtliche Verfahren auszusetzen, soweit die Entscheidung von der Verfassungsmäßigkeit der §§ 1600, 1685 BGB abhängt. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen wurden aufgehoben und die Sachen an die Ausgangsgerichte zurück verwiesen.

Zum Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 1724/01 versuchte zunächst, die Vaterschaft für ein im November 1998 geborenes Kind anzuerkennen. Da ihm mitgeteilt wurde, die Mutter des Kindes wünsche dies nicht, beantragte er beim Amtsgericht festzustellen, dass er der Vater des Kindes sei, und führte aus, nach längerem Zusammenleben mit der Mutter sei er bei der Geburt des Kindes anwesend gewesen und habe die Nabelschnur durchtrennt. Das Kind sei ein Wunschkind gewesen. Er habe mit der Mutter alle Vorbereitungen für die Geburt getroffen und zum Beispiel das Kinderzimmer eingerichtet. Auch der Name des Kindes sei gemeinsam ausgesucht worden. An seiner Vaterschaft seien seitens der Mutter des Kindes niemals Zweifel geäußert worden. Die Mutter des Kindes bestritt sein Vorbringen und gab an, im Oktober 2000 habe ein anderer Mann die Vaterschaft anerkannt. Vor den Fachgerichten hatte die Klage des Beschwerdeführers keinen Erfolg. Sie führten u.a. aus, die Feststellung der Vaterschaft sei nur dann zulässig, wenn keine andere Vaterschaft bestehe. Dies sei aber nach der Vaterschaftsanerkennung eines anderen Mannes mit Zustimmung der Mutter nicht mehr der Fall. Die Feststellung einer anderweitigen Vaterschaft sei daher ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer könne die Vaterschaft des Anerkennenden auch nicht anfechten, da lediglich der Mann, dessen Vaterschaft besteht, die Mutter des Kindes und das Kind selbst anfechtungsberechtigt seien. Der biologische Vater sei demgegenüber vom Gesetzgeber bewusst von einer Anfechtung ausgeschlossen worden.

Der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 1493/96 ist nach einer Blutgruppenuntersuchung aus dem Jahre 1990 zweifelsfrei der leibliche Vater eines 1989 geborenen Kindes, mit dessen verheirateter Mutter er - auch noch nach der Geburt des Kindes - eine Beziehung hatte und das Kind eine Zeitlang betreute. Da das Kind in eine bestehende Ehe hinein geboren wurde, ist der Beschwerdeführer zwar dessen leiblicher, nicht aber rechtlicher Vater (sog. biologischer Vater). Bis zum In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes bestimmte grundsätzlich die Mutter über den Umgang des Vaters mit seinem nichtehelichen Kind. Allerdings konnte das Vormundschaftsgericht dem Vater unter Kindeswohlgesichtspunkten ein Umgangsrecht einräumen (§ 1711 BGB a.F.). Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz hat der Gesetzgeber das gesamte Umgangsrecht neu ausgestaltet und in § 1685 BGB auch anderen Bezugspersonen für das Kind als den rechtlichen Eltern ein Umgangsrecht mit dem Kind eingeräumt, nicht aber dem biologischen Vater. Obwohl der Beschwerdeführer nach Trennung von der Mutter den Kontakt zu seinem Kind weiter aufrecht zu erhalten versuchte, blieb sein Begehren nach Umgang mit dem Kind, dem noch die Rechtslage vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes zugrunde lag, vor den Fachgerichten erfolglos.

Zum Recht des biologischen Vaters, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten, heißt es in den Gründen der Entscheidung:

Auch der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes steht unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Leiblicher Vater eines Kindes zu sein, macht diesen allein allerdings noch nicht zum Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Grundrechtsnorm schützt den leiblichen Vater aber in seinem Interesse, die Rechtsstellung als Vater des Kindes einzunehmen. Dieser Schutz vermittelt ihm kein Recht, in jedem Fall vorrangig vor dem rechtlichen Vater die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten. Ihm ist jedoch vom Gesetzgeber die Möglichkeit zu eröffnen, die rechtliche Vaterposition zu erlangen, wenn dem der Schutz einer familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern nicht entgegensteht.

§ 1600 BGB ist mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit unvereinbar, als er dem biologischen Vater auch dann das Recht auf Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft vorenthält, wenn die rechtlichen Eltern mit dem Kind gar keine soziale Familie bilden, die es nach Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen gilt. Hat ein Mann, ohne leiblicher Vater des Kindes zu sein, die Vaterschaft zwar anerkannt, lebt er aber mit der Mutter und dem Kind nicht zusammen, gibt es keinen hinreichenden Grund, dem leiblichen Vater zu verwehren, auch rechtlich als Vater anerkannt und in Pflicht genommen zu werden. Auch die Interessen von Mutter und Kind stehen dem nicht entgegen. Liegt eine Vaterschaftsanerkennung vor, kann der Gefahr, dass Mutter und Kind mit Anfechtungsverfahren überzogen werden, mit milderen Mitteln als dem völligen Ausschluss der Anfechtung durch den leiblichen Vater begegnet werden. So kann zum Beispiel vorweg die Glaubhaftmachung der leiblichen Vaterschaft verlangt und an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden. Auch Anfechtungsfristen helfen, dieses Risiko zu begrenzen.

Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Nach Angaben des Beschwerdeführers hat er mit der Mutter des Kindes dessen Namen ausgesucht, mit ihr auch noch in den ersten Lebensmonaten des Kindes zusammengelebt und gemeinsam mit ihr das Kind betreut. Das Kind soll dem Beschwerdeführer ähneln. Die Mutter bestreitet diese Angaben allein mit Nichtwissen. Nachdem während des Vaterschaftsfeststellungsverfahrens ein anderer Mann mit Zustimmung der Mutter ein Vaterschaftsanerkenntnis abgegeben hat, ist der Beschwerdeführer durch § 1600 BGB gehindert, die rechtliche Vaterschaft anzufechten, um selbst als Vater des Kindes festgestellt werden zu können, obwohl der durch das Anerkenntnis als Vater des Kindes geltende Mann nicht mit dem Kind und der Mutter zusammenlebt. Sein Ausschluss von der Anfechtungsmöglichkeit nach § 1600 BGB ist damit nicht durch den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG gerechtfertigt und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, als leiblicher Vater seine Vaterschaft auch rechtlich feststellen lassen zu können.

Zum Umgangsrecht des biologischen Vaters heißt es in den Gründen der Entscheidung:

Der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes ist nicht Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und kann darauf kein Recht auf Umgang mit dem Kind stützen. Auch er bildet aber mit seinem Kind eine Familie, die unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG steht, wenn zwischen ihm und dem Kind eine soziale Beziehung besteht, die darauf beruht, dass er zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen hat. Art. 6 Abs. 1 GG schützt den leiblichen Vater wie das Kind in ihrem Interesse am Erhalt dieser sozial-familiären Beziehung und damit am Umgang miteinander. Es verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 GG, den so mit seinem Kind verbundenen leiblichen Vater vom Umgang mit ihm auch dann auszuschließen, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. Zwar vermittelt weder Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG noch Art. 6 Abs. 1 GG dem leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater einen Anspruch auf Fortsetzung seines verantwortlichen Handelns gegenüber dem Kind. Auch bei Wegfall dieser Möglichkeit bleibt aber die zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind entstandene personelle Verbundenheit bestehen, die zudem noch getragen wird durch die verwandtschaftliche Verbindung zwischen Vater und Kind. Das Interesse des bisher familiär mit dem Kind verbundenen biologischen Vaters ebenso wie das Interesse seines Kindes am Erhalt dieser Beziehung zueinander wird in Nachwirkung des Schutzes, den zuvor deren familiäre Verantwortungsgemeinschaft erfahren hat, von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Aus diesem nachwirkenden Schutz folgt ein Recht des biologischen Vaters auf Umgang mit seinem Kind jedenfalls dann, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient.

Gemessen daran war § 1711 Abs. 2 BGB a.F. mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. Unter Berücksichtigung des Schutzes, den diese Grundrechtsnorm auch der Familienbeziehung zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind einräumt, konnte § 1711 Abs. 2 BGB a.F. verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass auch der leibliche, aber nicht rechtliche Vater, der eine sozial-familiäre Beziehung zu seinem Kind gehabt hat, durch gerichtliche Entscheidung die Befugnis zum Umgang mit seinem Kind erhalten konnte, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. Die auf § 1711 Abs. 2 BGB a.F. gestützten gerichtlichen Entscheidungen sind aber mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Gerichte haben bei ihren Entscheidungen den Schutz des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 1 GG verkannt. Sie haben dem Umstand, dass der Beschwerdeführer als leiblicher Vater des Kindes über einen längeren Zeitraum auch die Vaterrolle für sein Kind eingenommen und zu diesem eine Beziehung aufgebaut hat, keine Bedeutung beigemessen und deshalb nicht geprüft, ob § 1711 Abs. 2 BGB a.F. einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist.

Der Umstand, dass § 1711 Abs. 2 BGB a.F. durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz aufgehoben worden ist, macht es erforderlich, dass das Bundesverfassungsgericht auch das von den Gerichten anzuwendende neue Recht über den Umgang mit einem Kind der verfassungsrechtlichen Prüfung unterzieht. Andernfalls könnte nicht sichergestellt werden, dass die Gerichte im Verfahren 1 BvR 1493/96 umgangsrechtliche Entscheidungen treffen können, die der Verfassung entsprechen. § 1685 BGB in seiner Fassung durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz ist mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht in vollem Umfang zu vereinbaren. Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz hat das Umgangsrecht eine grundlegende Änderung erfahren. Beim elterlichen Umgangsrecht, das in § 1684 BGB geregelt ist, wird nicht mehr zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern unterschieden. Darüber hinaus ist in § 1685 BGB auch anderen Bezugspersonen für das Kind ein Umgangsrecht eröffnet worden. Beide Normen beziehen den leiblichen Vater eines Kindes nicht ausdrücklich in den Kreis der Umgangsberechtigten ein. Weder § 1684 BGB noch § 1685 BGB können dahin gehend ausgelegt werden, dass auch dem leiblichen Vater eines Kindes ein Umgangsrecht eingeräumt ist. Der Gesetzgeber hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Umgangsrecht auf diejenigen Bezugspersonen begrenzt sein soll, die die Norm (§ 1685 BGB) ausdrücklich nennt und von denen der Gesetzgeber annimmt, dass sie dem Kind üblicherweise besonders nahe stehen. Begründet hat er diese Begrenzung mit der Notwendigkeit, eine starke Ausweitung von Umgangsstreitigkeiten zu verhindern. Dies verbietet es, die in § 1685 BGB genannten Personenkreise im Wege der verfassungskonformen Auslegung um den leiblichen Vater zu erweitern. § 1685 BGB ist deshalb insoweit für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 GG zu erklären. Der Gesetzgeber ist gehalten, die Rechtslage bis zum 30. April 2004 mit der Verfassung in Einklang zu bringen. Dabei hat er bei Fristsetzungen für die Ausübung des Anfechtungsrechts sicherzustellen, dass auch diejenigen biologischen Väter, für die bisher die Anfechtung nicht möglich war, in den Stand versetzt werden, von dem Anfechtungsrecht Gebrauch zu machen.

Karlsruhe, den 29. April 2003