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Zur demokratischen Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung

Pressemitteilung Nr. 37/2003 vom 13. Mai 2003

Beschluss vom 05. Dezember 2002
2 BvL 5/98

Der Zweite Senat des BVerfG hat mit Beschluss vom 5. Dezember 2002 im Rahmen konkreter Normenkontrollverfahren festgestellt, dass die Vorschriften des Lippeverbandsgesetzes und des Emschergenossenschaftsgesetzes über die Organisations- und Entscheidungsstrukturen der Wasserverbände Lippeverband und Emschergenossenschaft mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Zum Sachverhalt:

Im Jahr 1990 wurden in Nordrhein-Westfalen die beiden großen Wasserverbände betreffend die Lippe und die Emscher durch das Gesetz über den Lippeverband (Lippeverbandsgesetz - LippeVG -) bzw. durch das Gesetz über die Emschergenossenschaft (Emschergenossenschaftsgesetz - EmscherGG -) neu strukturiert. Die Wurzeln dieser Wasserverbände im heutigen Gebiet von Nordrhein-Westfalen reichen zurück bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie nehmen als Körperschaften des öffentlichen Rechts die wesentlichen wasserwirtschaftlichen Aufgaben für das Einzugsgebiet der Lippe bzw. der Emscher wahr. Die Wahlen zum Verbands- bzw. Genossenschaftsrat, die die nach der Gesetzesneufassung gebildete Verbands- bzw. Genossenschaftsversammlung in ihrer jeweils ersten Sitzung Ende 1990 vorgenommen hatten, sowie die Wahl des jeweiligen Vorstands durch den neu gewählten Verbands- bzw. Genossenschaftsrat wurden durch zwei Mitglieder des Lippeverbands und vier Genossen der Emschergenossenschaft, alle aus dem Kreis der gewerblichen Unternehmen und Bergwerke, angefochten. Sie bezweifelten wegen der neu eingeführten Mitbestimmung der Arbeitnehmer die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Zusammensetzung des Verbands- bzw. Genossenschaftsrats und des Vorstands des jeweiligen Wasserverbands und sahen sich in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Außerdem verstoße die Arbeitnehmermitbestimmung im Verbands- bzw. Genossenschaftsrat gegen das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie gegen das Übermaßverbot. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte im Revisionsverfahren verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich aller für die Entscheidungsstrukturen des Verbands und der Genossenschaft maßgeblichen Vorschriften. Nach seiner Überzeugung bestehen bestimmte Verbands- bzw. Genossenschaftsorgane des jeweiligen Wasserverbands, die zu verbindlichem Handeln mit Einscheidungscharakter auf dem Gebiet einer lebensnotwendigen Staatsaufgabe befugt seien, aus Amtswaltern, denen eine ununterbrochene auf das Volk zurückzuführende organisatorisch-personelle Legitimation fehlt. Dies sei mit dem im Grundgesetz verankerten Demokratiegebot unvereinbar. Deshalb hatte das BVerwG die jeweils betroffenen Vorschriften des LippeVG und des EmscherGG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt.

In den Gründen der Entscheidung heißt es im Wesentlichen:

1. Das BVerfG hat für die unmittelbare Staatsverwaltung auf Bundes- und Landesebene sowie die Selbstverwaltung in den Kommunen Grundsätze zur Entfaltung des demokratischen Prinzips entwickelt. Danach erfordert die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern. Verfassungsrechtlich kommt es entscheidend nicht auf die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns, sondern auf deren Effektivität an; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau. Die Bestellung der Amtsträger muss personell, ihr Handeln sachlich-inhaltlich demokratisch legitimiert sein. Ein Amtsträger ist uneingeschränkt personell legitimiert, wenn er sein Amt im Wege einer Wahl durch das Volk oder das Parlament oder durch einen seinerseits personell legitimierten Amtsträger oder mit dessen Zustimmung erhalten hat. Wird er von einem Gremium mit nur zum Teil personell legitimierten Amtsträgern bestellt, erfordert die volle demokratische Legitimation, dass die die Entscheidung tragende Mehrheit aus einer Mehrheit unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder des Bestellungsorgans besteht. Das demokratische Prinzip lässt auch Raum für die Beteiligung einer Mitarbeitervertretung.

Wasserverbände der hier zu beurteilenden Art gehören zu einem historisch gewachsenen und von der Verfassung grundsätzlich anerkannten Bereich nicht-kommunaler Selbstverwaltung. Dieser weist vielfältige Erscheinungsformen auf und wird mit Blick auf die Wahrnehmung bestimmter eingegrenzter Aufgaben als funktionale Selbstverwaltung bezeichnet. Insoweit hat der Senat zu den Anforderungen demokratischer Legitimation bei deren Ausgestaltung ausgeführt:

Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der gemeindlichen Selbstverwaltung ist das Demokratiegebot offen für Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es erlaubt, für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Gesetz besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen. Funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt insofern das demokratische Prinzip. Der Gesetzgeber darf ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessenausgleich erleichtern und so dazu beitragen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden.

Welche Aufgaben auf Organisationseinheiten der Selbstverwaltung übertragen werden, liegt weitgehend im Ermessen des Gesetzgebers. Überwiegend handelt es sich um überschaubare Aufgabenbereiche, deren Erledigung im Rahmen der Selbstverwaltung historisch überkommen ist und sich traditionell bewährt hat. Nicht übertragen werden dürfen diejenigen öffentlichen Aufgaben, die der Staat selbst durch seine eigenen Behörden als Staatsaufgaben im engeren Sinn wahrnehmen muss. Darüber hinaus gibt das Demokratieprinzip nicht vor, welche Aufgaben dem Staat als im engeren Sinne staatliche Aufgaben vorzubehalten sind. Insbesondere müssen Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge nicht allein deshalb zwingend unmittelbar vom Staat erledigt werden, weil sie von wesentlicher Bedeutung für das Allgemeinwohl sind. Dies gilt auch für den Bereich der Wasserwirtschaft.

Der Gesetzgeber besitzt bei der Schaffung und näheren Ausgestaltung von Organisationseinheiten der Selbstverwaltung Gestaltungsfreiheit. Der Selbstverwaltungsträger darf auch zu verbindlichem Handeln mit Entscheidungscharakter ermächtigt werden. Dies gilt - allerdings begrenzt - auch für ein Handeln gegenüber Dritten, also Nichtmitgliedern. Ein solches ist den Organen von Trägern funktionaler Selbstverwaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht aber nur gestattet, weil und soweit das Volk sein Selbstbestimmungsrecht wahrt, indem es maßgeblichen Einfluss behält. Das erfordert, dass die Aufgaben und Handlungsbefugnisse der Organe in einem von der Volksvertretung beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der Aufsicht personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt.

2. Nach diesem Maßstab sind die zur Prüfung gestellten Vorschriften im LippeVG und im EmscherGG mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie wahren die Anforderungen, die das Demokratieprinzip des Grundgesetzes an die organisatorische Struktur der vom Volk ausgehenden Staatsgewalt stellt.

Das LippeVG und EmscherGG sehen detaillierte gesetzliche Vorgaben für die Aufgaben der Selbstverwaltungseinheiten, für die Schaffung der Verbands- und Genossenschaftsorgane und zu deren Handlungsbefugnissen vor. Beide Gesetze regeln weiter detailliert und umfassend die staatliche Aufsicht, die neben der Rechtsaufsicht auch Ansätze einer Fachaufsicht einschließt. Dies wird in der Entscheidung im Einzelnen ausgeführt.

Schließlich verstoßen auch die Regelungen über die Arbeitnehmermitbestimmung nicht gegen das Demokratieprinzip. Die Mitbestimmung von Arbeitnehmern in der Selbstverwaltung ist grundsätzlich vereinbar mit dem im Demokratiegebot wurzelnden Grundgedanken der Beteiligung Betroffener bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Gerechtfertigt ist jedenfalls die eingeschränkte Beteiligung der Arbeitnehmer zur Wahrung ihrer Belange und zur Mitgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen. Eine Beteiligung Nichtbetroffener - unter Einschränkung des Prinzips der Betroffenenbeteiligung - kann durch eine angestrebte Steigerung der Wirksamkeit der öffentlichen Aufgaben gerechtfertigt sein. Deshalb kann es im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung zulässig sein, zur Effektivitätssteigerung Arbeitnehmervertreter in Leitungsorgane der jeweiligen Körperschaft zu berufen und ihnen sowie auch externen Vertretern die Beteiligung an der allgemeinen Aufgabenerfüllung zu eröffnen.

Auch im Übrigen sind die vom BVerwG zur Prüfung gestellten Vorschriften des LippeVG und des EmscherGG mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip sowie eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG liegen nicht vor.

Karlsruhe, den 13. Mai 2003