Bundesverfassungsgericht

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Zur fachgerichtlichen Selbstkorrektur bei Verstößen gegen das Recht auf rechtliches Gehör

Pressemitteilung Nr. 44/2003 vom 28. Mai 2003

Beschluss vom 30. April 2003
1 PBvU 1/02

Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat den Gesetzgeber verpflichtet, den Rechtsschutz bei der Verletzung von Verfahrensgrundrechten auszubauen. Mit einer Mehrheit von zehn zu sechs Stimmen hat es beschlossen, dass es gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Zugleich hat das Plenum die bei einer behaupteten Verletzung von Verfahrensgrundrechten praktizierten ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe beanstandet, weil sie gegen das rechtsstaatliche Gebot der Rechtsmittelklarheit verstoßen.

In dem Plenarverfahren ging es um die Frage, ob und in welchem Umfang nach dem Grundgesetz Verstöße eines Richters gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör durch die Fachgerichte selbst behoben werden müssen. Mittelbar ging es auch um die Verfassungsmäßigkeit eines im Laufe der Jahre entstandenen Systems ungeschriebener "außerordentlicher" Rechtsbehelfe (wie Gegenvorstellungen oder Rügen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit), das nicht zuletzt dem Ziel diente, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde eine Anrufung der Fachgerichte auch in Fällen zu sichern, in denen der Gesetzgeber ausdrücklich kein Rechtsmittel geschaffen hat.

Ausgangspunkt des Plenarverfahrens ist eine beim Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts anhängige Verfassungsbeschwerde. Diese betrifft ein Berufungsurteil, durch das nach Auffassung des Ersten Senats der Anspruch des Beschwerdeführers (Bf) auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt wird. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die gegen das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) eingelegte Revision als unzulässig verworfen. Die Entscheidung des BGH beruht auf den Bestimmungen der Zivilprozessordnung zur Zulässigkeit der Revision in der bis zum 31. Dezember 2001 gültigen Fassung. Im Fehlen einer gesetzlichen Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verletzung rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte sieht der Erste Senat einen Verstoß gegen den Justizgewährungsanspruch. Nach der bisherigen Rechtsprechung beider Senate gewährleistet das Grundgesetz keinen Rechtsschutz gegen den Richter. Davon wollte der Erste Senat insoweit abrücken, als es sich um entscheidungserhebliche Verstöße des Richters gegen das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG handelt. Dem ist das Plenum gefolgt.

In den Gründen der Entscheidung heißt es im Wesentlichen: Die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung. Rechtsschutz ist gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs garantiert. Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen allerdings nicht geboten. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nimmt das verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzsystem bei der Überprüfung eines Verhaltens ein verbleibendes Risiko falscher Rechtsanwendung durch das Gericht in Kauf.

Der allgemeine Justizgewährungsanspruch und als dessen Spezialregelung die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unterscheiden sich nicht im rechtlichen Kerngehalt, aber hinsichtlich ihrer Anwendungsbereiche. Art. 19 Abs. 4 GG, der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt vorsieht, wird regelmäßig so verstanden, dass die Gerichte nicht öffentliche Gewalt im Sinne dieser Vorschrift sind: Das Grundgesetz gewährleiste Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter. Auch nach der Entscheidung des Plenums bleibt der Begriff der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG auf das Handeln der Exekutive beschränkt. Dennoch entsteht nach Auffassung des Plenums kein Rechtsschutzdefizit, da weiter gehender Rechtsschutz über den allgemeinen Justizgewährungsanspruch gesichert ist.

Von diesem Anspruch umfasst ist Rechtsschutz bei der erstmaligen Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht. Insbesondere das Recht auf den gesetzlichen Richter und auf rechtliches Gehör sichern die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards. In einem Rechtsstaat gehört zu einer grundrechtlichen Garantie die Möglichkeit einer zumindest einmaligen gerichtlichen Kontrolle ihrer Einhaltung. Die genannten Verfahrensgrundrechte verpflichten ausschließlich die Gerichte, können also durch einen Träger der Exekutive nicht verletzt werden. Das daher bei Art. 19 Abs. 4 GG verbleibende Rechtsschutzdefizit wird durch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch behoben.

Das rechtliche Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie. Diese sichert den Zugang zum Verfahren, während Art. 103 Abs. 1 GG auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zielt. Wer vor Gericht formell ankommt, soll auch substanziell ankommen, also wirklich gehört werden. Das Verfahrensgrundrecht enthält einen Maßstab für die Rechtmäßigkeit des richterlichen Verhaltens bei der Verfahrensdurchführung. Effektivität des Rechtsschutzes wird am wirkungsvollsten durch eine möglichst sach- und zeitnahe Behebung von Gehörsverstößen durch die Fachgerichte selbst erreicht. Sieht die Verfahrensordnung noch ein Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung vor, das auch zur Überprüfung der behaupteten Verletzung von Verfahrensgrundrechten führen kann, genügt dies dem Anliegen der Justizgewährung. Kommt es zu der behaupteten entscheidungserheblichen Verletzung des Verfahrensgrundrechts in der letzten Gerichtsinstanz, muss die Verfahrensordnung eine eigenständige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsehen.

In den Entscheidungsgründen wird betont, dass eine behauptete Rechtsverletzung bei einem gerichtlichen Verfahrenshandeln nur einer einmaligen gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden muss. Ein endloser Rechtsweg scheidet aus.

Bei der Ausgestaltung des Rechtsbehelfssystems hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum. Die Prüfung einer behaupteten Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG kann im allgemeinen Rechtsmittelsystem vorgesehen werden, aber auch im Rahmen eines Sonderrechtsbehelfs, wie des kürzlich neu geschaffenen § 321 a ZPO. Möglich ist dabei auch ein Rechtsbehelf an das Gericht, dessen Verfahrenshandlung als fehlerhaft gerügt wird. Bei der näheren Ausgestaltung muss der Gesetzgeber die Interessen anderer Verfahrensbeteiligter, die Belange der Rechtssicherheit und die Anforderungen an die Funktionsfähigkeit der Gerichte berücksichtigen.

Das Grundgesetz hat die rechtsprechende Gewalt in erster Linie den Fachgerichten anvertraut. Eine Verfassungsbeschwerde kommt nach dem Grundsatz der Subsidiarität grundsätzlich erst nach Befassung der Fachgerichte in Betracht. Entsprechende Rechtsbehelfe zu den Fachgerichten hat der Gesetzgeber bei entscheidungserheblichen Gehörsverletzungen allerdings nur teilweise geschaffen, nämlich nur soweit derartige Rügen noch im allgemeinen Rechtsmittelsystem oder etwa durch befristete Anhörungsrügen wie § 321 a ZPO geltend gemacht werden können. Im Übrigen besteht ein Rechtsschutzdefizit. Es kann durch die bisher von der Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe nicht behoben werden, da sie gegen den Grundsatz der Rechtsmittelklarheit verstoßen. Deshalb ist der Gesetzgeber gefordert. Sollte er eine Neuregelung nicht bis Ende 2004 vornehmen, werden die Verfahren auf Antrag vor dem Gericht fortzusetzen sein, dessen Entscheidung wegen einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angegriffen wird.

Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 - Az. 1 PBvU 1/02 -

Karlsruhe, den 28. Mai 2003