Bundesverfassungsgericht

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Zur Bedeutung der Berufsfreiheit beim Sozietätswechsel von Rechtsanwälten

Pressemitteilung Nr. 56/2003 vom 23. Juli 2003

Beschluss vom 03. Juli 2003
1 BvR 238/01

§ 3 Abs. 2 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) vom 29. November 1996 ist mit der grundrechtlich geschützten Berufsausübungsfreiheit unvereinbar und nichtig. Dies gilt auch für inhaltsgleiche Fassungen dieser Vorschrift in späteren Bekanntmachungen. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf die Verfassungsbeschwerde (Vb) dreier beschwerdeführender Rechtsanwälte (Bf), die gemeinsam eine Anwaltskanzlei betreiben und sich gegen die von der Rechtsanwaltskammer ausgesprochene Verpflichtung zur Niederlegung von Mandaten wehrten, nachdem sie einen Rechtsanwalt angestellt hatten, der zuvor bei einer auf der Gegenseite tätigen Sozietät beschäftigt war.

Der Erste Senat hob den Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH), der die Entscheidung der Rechtsanwaltskammer bestätigte, auf, weil sie die Bf in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Das Verfahren wurde an den BGH zurückverwiesen.

1. Zum Sachverhalt:

Zu den in § 43 a Abs. 4 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) geregelten Grundpflichten eines Rechtsanwalts gehört es, keine widerstreitenden Interessen zu vertreten. Dieses Verbot wird in § 3 BORA (siehe Anlage) auf Sozietäten erstreckt. In dem der Vb zugrundeliegenden Fall ist ein Rechtsanwalt in die Kanzlei der Bf als angestellter Rechtsanwalt eingetreten. Er wird im Briefkopf unter der Überschrift "Rechtsanwälte" neben den drei Sozien genannt. Zuvor war dieser Rechtsanwalt in einer Anwaltssozietät am gleichen Ort als angestellter Rechtsanwalt beschäftigt. Auch auf deren Briefbogen trat er in Erscheinung. Betroffen von dem Wechsel waren neun Mandate zwischen den beiden Kanzleien mit einem Auftragsvolumen von ca. 85.000 DM. Es handelte sich dabei ausschließlich um Mandate, in denen der Rechtsanwalt in dem abgebenden Büro nicht als Anwalt tätig geworden war. In der Kanzlei der Bf war durch interne Weisungen sichergestellt, dass er in diesen Mandaten nicht tätig wird. Die zuständige Anwaltskammer sah in der Fortführung der genannten Mandate einen Verstoß gegen § 3 BORA und verpflichtete die Bf zur Mandatsniederlegung. Nach anderslautender Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs bestätigte der BGH die Entscheidung der Anwaltskammer. Mit ihrer Vb berufen sich die Bf im Wesentlichen auf die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Zu der grundrechtlich geschützten anwaltlichen Berufsausübung gehört wesentlich die Vertretung von Mandanten. Die Verpflichtung zur Mandatsbeendigung greift in die Berufsausübungsfreiheit der Bf ein. Ein solcher Eingriff darf nur durch das Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das den Anforderungen von Art. 12 Abs. 1 GG genügt.

Die Pflicht zur Mandatsbeendigung der Sozietäten ist nicht ausdrücklich gesetzlich normiert. § 43 a Abs. 4 BRAO bezieht sich nur auf den Einzelanwalt. Allerdings dürfen die Fachgerichte gegebenenfalls vorhandene gesetzliche Lücken im Wege richterlicher Rechtsfortbildung schließen. Dabei müssen sie jedoch eine unverhältnismäßige Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit vermeiden. Die Verpflichtung zur Mandatsniederlegung nach einem Sozietätswechsel, obwohl der wechselnde Anwalt zuvor selbst die widerstreitenden Interessen auf der Gegenseite nicht vertreten hat und sie auch nicht zu vertreten beabsichtigt, muss durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein. Der Eingriff darf nicht weitergehen, als es die rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erfordern. Eingriffszweck und Eingriffsintensität müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen.

Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung nicht. Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen dient zunächst dem Schutz des individuellen Vertrauensverhältnisses zum Mandanten sowie der Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts. Im vorliegenden Fall sahen die vom Kanzleiwechsel betroffenen Mandanten beider Seiten das Vertrauensverhältnis zu ihren jeweiligen Rechtsanwälten nicht als gestört an und waren mit einer Fortführung der eigenen ebenso wie der gegnerischen Mandate einverstanden. In einem solchen Fall können der Schutz anwaltlicher Unabhängigkeit und der Erhalt des konkreten Vertrauensverhältnisses zum Mandanten nicht als Gemeinwohlgründe angeführt werden.

Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen dient darüber hinaus aber auch der im Interesse der Rechtspflege gebotenen Geradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung. Ein Anwalt soll nur einer Seite dienen. Hinsichtlich dieses Gemeinwohlbelangs gelten folgende Grundsätze: Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt - für den Mandanten unverfügbar - den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus. Gleichwohl dürfen weder Rechtsanwaltskammern noch Gerichte abstrakt und verbindlich festlegen, was den Interessen des eigenen Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient. In erster Linie ist es Sache der Mandanten beider Kanzleien einzuschätzen, ob in Folge eines Sozietätswechsels eine Beeinträchtigung konkret droht. Sie sind deshalb wahrheitsgemäß und umfassend zu informieren. Daneben kann ein eigenverantwortlicher Umgang des Rechtsanwalts mit einer solchen Situation erwartet werden. Er muss verantwortlich einschätzen, ob im konkreten Fall die Mandatsniederlegung geboten ist. Rechtsanwälte sind unabhängige Organe der Rechtspflege. Auf deren Integrität, Professionalität und Zuverlässigkeit ist die Rechtspflege angewiesen, ohne dass es dazu der Einzelkontrolle oder der Mittel des Strafrechts bedürfte. In tatsächlicher Hinsicht können vielfältige Umstände, etwa der Arbeitsteilung oder der Organisation innerhalb der Sozietät sicherstellen, dass der wechselnde Rechtsanwalt von vornherein über keine geheimhaltungsbedürftigen Informationen verfügt. Selbst wenn dies jedoch der Fall ist, kann ein Mandant solche Kenntnisse im konkreten Fall für unschädlich halten, sofern der wechselnde Rechtsanwalt in der aufnehmenden Kanzlei von jeder Rechtbesorgung ferngehalten wird.

§ 43 a Abs. 4 BRAO ermöglicht eine der Verfassung entsprechende Auslegung und Anwendung. Dies erfordert eine dem Einzelfall gerecht werdende Einzelabwägung aller Belange unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Mandanteninteressen. Im Interesse der Rechtspflege sowie eindeutiger und geradliniger Rechtsbesorgung muss lediglich im konkreten Fall die Vertretung widerstreitender Interessen vermieden werden. Haben die vom Kanzleiwechsel informierten Mandanten keinen Zweifel an der Verschwiegenheit ihrer Anwälte, besteht im Interesse der Rechtspflege nur Anlass zum Eingreifen, wenn hierfür sonstige Indizien sprechen, die dem Mandanten verborgen geblieben oder von ihnen unzutreffend eingeschätzt worden sind.

§ 3 Abs. 2 BORA lässt indessen keinen Raum für eine Abwägung im Einzelfall. Diese Bestimmung ist aus diesem Grund in der ursprünglichen wie in der Fassung späterer Bekanntmachungen mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig. Die Möglichkeit des Sozietätswechsels ist für die Anwaltschaft zunehmend von Bedeutung. Eine Vielzahl von Rechtsanwälten geht in Sozietäten ihrem Beruf nach. Ein Kanzleiwechsel ist keine Seltenheit mehr und kommt selbst für hochspezialisierte Rechtsanwälte in Betracht. Kanzleiwechsel können Einkommens- oder Karrierechancen verbessern. § 3 Abs. 2 BORA erschwert den Berufswechsel, weil der aufnehmenden Kanzlei grundsätzlich die Mandatsniederlegung und damit der Verzicht auf Einnahmen zugemutet wird. Damit sind Beeinträchtigungen der Berufsausübungsfreiheit verbunden, die nicht weitergehen dürfen, als sie vom Eingriffszweck unumgänglich sind.

Dies ist bei § 3 Abs. 2 BORA nicht der Fall. Diese Bestimmung beschränkt die Nachteile für die aufnehmende Sozietät nicht auf das zum Schutz von Gemeinwohlinteressen erforderliche Minimum. Die Vorschrift lässt eine Prüfung im Einzelfall nicht zu, ob Sicherungen zur Wahrung des Vertrauens in die Beachtung der Verschwiegenheitspflicht bestehen. Dies hängt von der Organisation und der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Anwälten im jeweiligen Einzelfall ab. Wird hingegen an die formalen Außenbeziehungen von Rechtsanwälten durch eine Pflicht zur Mandatsniederlegung ein Mobilitätshindernis geknüpft, führt dies zu einer unverhältnismäßigen Erschwerung des Kanzleiwechsels.

Karlsruhe, den 23. Juli 2003

Anlage zur Pressemitteilung Nr.: 56/2003 vom 23. Juli 2003

§ 43 a BRAO: Grundpflichten des Rechtsanwalts

(1) bis (3) ...

(4) Der Rechtsanwalt darf keine widerstreitenden Interessen vertreten.

(5) und (6) ....

§ 3 BORA vom 29. November 1996:

Widerstreitende Interessen, Versagung der Berufstätigkeit

(1) Der Rechtsanwalt darf nicht tätig werden, wenn er, gleich in welcher Funktion, eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise im Sinne der §§ 45, 46 Bundesrechtsanwaltsordnung beruflich befasst war.

(2) Das Verbot gilt auch, wenn ein anderer Rechtsanwalt oder Angehöriger eines anderen Berufes im Sinne des § 59 a Bundesrechtsanwaltsordnung, mit dem der Rechtsanwalt in Sozietät, zur gemeinschaftlichen Berufsausübung in sonstiger Weise (Anstellungsverhältnis, freie Mitarbeit) oder in Bürogemeinschaft verbunden ist oder war, in derselben Rechtssache, gleich in welcher Funktion, im widerstreitenden Interesse berät, vertritt, bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise beruflich befasst ist oder war. (3) Wer erkennt, dass er entgegen den Absätzen 1 oder 2 tätig ist, hat unverzüglich davon seinen Mandanten zu unterrichten und alle Mandate in derselben Rechtssache zu beenden.

§ 3 BORA in der Fassung vom 22. März 1999:

Widerstreitende Interessen, Versagung der Berufstätigkeit

(1) und (2) ...

(3) Die Verbote der Abs. 1 und 2 gelten nicht, wenn eine Verbindung zur gemeinsamen Berufsausübung beendet ist und der Rechtsanwalt während der Zeit gemeinsamer Berufsausübung weder Sozius war noch wie ein solcher nach außen hervorgetreten ist und auch selbst mit der Rechtssache nicht befasst war.

(4) ...