Bundesverfassungsgericht

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Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeprivileg bei Abgeordneten

Pressemitteilung Nr. 60/2003 vom 30. Juli 2003

Urteil vom 30. Juli 2003
2 BvR 508/01

Schriftstücke, für die der Abgeordnete glaubhaft macht, dass sie ihm im Zusammenhang mit seiner parlamentarischen Arbeit anvertraut sind, dürfen in den Räumen des Bundestags auch bei einem Mitarbeiter eines Abgeordneten nicht beschlagnahmt werden. Dies entschied mit heute verkündetem Urteil der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines Verfassungsbeschwerde-Verfahrens und eines gegen den Präsidenten des Deutschen Bundestags (AG) gerichteten Organstreitverfahrens.

Beschwerdeführer (Bf) und Antragsteller (ASt) sind 13 Abgeordnete des Deutschen Bundestags und Mitglieder bzw. stellvertretende Mitglieder der Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion im Parteispenden-Untersuchungsausschuss des 14. Deutschen Bundestags, der Bf zu 1 und ASt zu 1 war deren Obmann.

Der Zweite Senat hat weiter festgestellt, dass der Beschluss des Landgerichts München I (LG) vom 16. Februar 2001, mit dem unter anderem die Beschlagnahme der in der Wohnung und im Büro des beschuldigten Mitarbeiters sichergestellten Unterlagen und Gegenstände bestätigt wurde, den Bf zu 1 in seinem Recht aus Art. 47 Satz 2 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt. Der Beschluss wurde aufgehoben und die Sache an das Landgericht München I zurückverwiesen. Die Verfassungsbeschwerde (Vb) der weiteren Bf und der Antrag in dem Organstreitverfahren wurden zurückgewiesen.

Beiden Verfahren liegt ein identischer Sachverhalt zu Grunde.

Wegen dessen Einzelheiten wird auf die Pressemitteilung Nr. 109/2002 vom 11. Dezember 2002 verwiesen. Durch Beschlüsse des Landgerichts München I vom 11. März 2003 und des Oberlandesgerichts München vom 4. Juni 2003 wurde die Zulassung der Anklage gegen den Mitarbeiter des Bf zu 1 wegen Eintritts der Verjährung abgelehnt.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

1. Die Vb ist hinsichtlich der Bf zu 2 bis 13 unzulässig. Die mit der Vb angegriffene Entscheidung des Landgerichts betrifft allein den Bf zu 1. Nur dieser hatte erkennbar Beschwerde gegen die vorangegangene Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung des Amtsgerichts München eingelegt. Die zwölf weiteren Bf hatten sich der Beschwerde "angeschlossen", ohne zu diesem Zeitpunkt namentlich benannt zu sein.

Die Vb des Bf zu 1 ist hingegen zulässig. Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeprivileg nach Art. 47 GG sind Ausprägungen des verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und damit subjektiv-öffentliche Rechte des Abgeordneten. Insbesondere kann der Bf zu 1 nicht auf das Organstreitverfahren als vorrangige Rechtsschutzmöglichkeit verwiesen werden. Soweit ein Abgeordneter die Verletzung eines Rechts, das sich aus seinem Status ergibt, in keinem anderen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen kann, ist die Verfassungsbeschwerde statthaft. Anderenfalls würde der Bf zu 1 als Abgeordneter gegenüber dem Berufsgeheimnisträger benachteiligt. Dieser kann nämlich gegen eine Beeinträchtigung seines Zeugnisverweigerungsrechts durch staatliche Behörden nach Erschöpfung des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde einlegen. Außerdem wäre eine Aufhebung der Entscheidung des LG in dem parallel geführten Organstreitverfahren gegen den Bundestagspräsidenten wegen der unterschiedlichen Streitgegenstände und des unterschiedlichen Prüfungsumfangs in den beiden Verfahren nicht erreichbar. Dies würde zu einer nicht vertretbaren Beschränkung verfassungsrechtlicher Kontrolle führen. Trotz der Nichtzulassung der Anklage gegen den Mitarbeiter des Bf zu 1 besteht das Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Beschlusses fort. Andernfalls unterbliebe nämlich die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Zudem erscheint der gerügte Grundrechtseingriff als besonders belastend.

Die Vb des Bf zu 1 ist auch begründet. Das LG hat den besonderen Schutzgehalt von Art. 47 GG gerade auch in seiner Bedeutung als Funktionsschutz der parlamentarischen Arbeit verkannt. Mit dem Zeugnisverweigerungsrecht und dem Beschlagnahmeprivileg schützt die Verfassung das Vertrauensverhältnis, das im Einzelfall zwischen dem Abgeordneten und einem Dritten in Rücksicht auf die Mandatsausübung zustande gekommen ist. Diese Rechte stärken das freie Mandat und gewährleisten zugleich dem Bundestag als Verfassungsorgan einen Funktionsschutz. Der Zweite Senat hat in diesem Verfahren die umstrittene Frage geklärt, ob im Fall einer Ermittlung gegen einen beschuldigten Mitarbeiter des Abgeordneten auch auf Schriftstücke zugegriffen werden kann, die der Abgeordnete diesem im Rahmen seines Direktionsrechts überlassen hat. In den Räumen des Bundestags hat der Abgeordnete unmittelbar Herrschaftsmacht über Schriftstücke im Sinne des Art. 47 Satz 2 GG, die seinem Direktionsrecht unterliegen. Solche Schriftstücke dürfen in den Räumlichkeiten des Bundestags auch bei dem Mitarbeiter eines Abgeordneten nicht beschlagnahmt werden. Soweit sich Schriftstücke außerhalb der Räume des Bundestags bei einem Mitarbeiter befinden, ist die rechtliche und tatsächliche Beherrschungsmöglichkeit des Abgeordneten so weit gelockert, dass der Schutzbereich des Art. 47 GG verlassen wird.

2. Der Antrag im Organstreitverfahren ist zulässig, aber unbegründet. Der Bundestagspräsident hat durch die Erteilung der Genehmigung zur Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumen des Deutschen Bundestags nicht die Rechte der ASt zu 1 bis 13 aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 47 Satz 2 GG verletzt. Der Abgeordnete kann insoweit nur verlangen, dass der Bundestagspräsident bei Genehmigungsentscheidungen über eine Durchsuchung oder Beschlagnahme in den Räumen des Bundestags den Abgeordnetenstatus nicht grob verkennt und sich nicht von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt. Der Zweite Senat ist dabei von folgendem Prüfungsmaßstab ausgegangen: Art. 40 Abs. 2 GG begründet eigenständige Kompetenzen des Bundestagspräsidenten zum Schutze der Räume des Bundestags gegen Eingriffe von Exekutive und Judikative. Art. 40 Abs. 2 GG dient in erster Linie dem Schutz der räumlichen Integrität des Deutschen Bundestags. Daneben schützt er auch die Autorität des Bundestagspräsidenten sowie die der Abgeordneten als Teile des Parlaments. Die parlamentarische Arbeit kann bei Durchsuchungen und Beschlagnahmen im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in weit größerem Maße beeinträchtigt werden als bei der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Bei einer Entscheidung des Bundestagspräsidenten über eine Genehmigung für eine Durchsuchung oder Beschlagnahme geht es deshalb darum, die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Arbeit zu sichern. Richtet sich ein Strafverfahren gegen den Abgeordneten selbst, brauchen das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeverbot mangels formeller Zeugenstellung des Abgeordneten nicht berücksichtigt werden. Bei einem Ermittlungsverfahren gegen einen Mitarbeiter eines Abgeordneten können sich Durchsuchungen und Beschlagnahmen in den Räumen des Bundestags allerdings behindernd auf die Arbeit des Parlaments auswirken.

Der Bundestagspräsident hat daher im Interesse der Wahrung der parlamentarischen Autonomie und der Repräsentation des Volkes durch das Parlament bei Entscheidungen über eine Genehmigung zur Durchsuchung oder Beschlagnahme über die allgemeinen politischen Belange hinaus die Immunität der Abgeordneten, ihr Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeprivileg zu berücksichtigen. Seine Prüfungspflicht ist jedoch auf eine Evidenzkontrolle beschränkt, die das Vorliegen eines Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses einschließt. Die Genehmigungsentscheidung des Bundestagspräsidenten ergänzt funktionell den persönlichen Immunitätsschutz des Abgeordneten nach Art. 46 Abs. 2 GG. Deshalb kann der Schutz des einzelnen Abgeordneten hier keine größere Wirkung entfalten als der durch die Immunität bewirkte Schutz. Die Normen des Parlamentsverfassungsrechts schützen grundsätzlich die Abgeordneten nicht vor Strafverfolgung und Strafe. Dies gilt erst Recht für das strafbare Verhalten von Mitarbeitern. Der Genehmigungsvorbehalt für die strafrechtliche Verfolgung von Abgeordneten im Rahmen des Immunitätsschutzes dient vor allem dem Parlament als Ganzem und gewährt dem einzelnen Abgeordneten nur einen Anspruch darauf, dass sich das Parlament bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt. Der Abgeordnete kann daher vom Bundestagspräsidenten die Berücksichtigung von Beschlagnahmeprivilegien nur insoweit verlangen, als die zu genehmigende Durchsuchung und Beschlagnahme für ihn erkennbar Teil einer ungerechtfertigten Verfolgung des Abgeordneten durch die Exekutive ist. Sowohl die historische als auch die systematische Auslegung bestätigen dieses Auslegungsergebnis. Dies wird in dem Urteil des Zweiten Senats im Einzelnen ausgeführt.

Nach diesem Maßstab ist die Erteilung der Genehmigung zur Durchsuchung und Beschlagnahme in den Räumen des Deutschen Bundestags durch den AG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Für den Verdacht, dass diese Durchsuchung und Beschlagnahme Teil einer ungerechtfertigten Verfolgung des ASt zu 1 oder der übrigen ASt durch die Judikative oder die Exekutive waren, gab es weder im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung noch danach greifbare Anhaltspunkte. Dies haben die ASt auch nicht behauptet.

Karlsruhe, den 30. Juli 2003