Bundesverfassungsgericht

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Überlange Dauer eines Strafverfahrens infolge rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung

Pressemitteilung Nr. 66/2003 vom 14. August 2003

Beschluss vom 25. Juli 2003
2 BvR 153/03

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat ein Strafurteil hinsichtlich des Straffolgenausspruchs aufgehoben, nachdem der Verurteilung des Angeklagten (Bf) ein insgesamt siebeneinhalb Jahre dauerndes Strafverfahren vorausgegangen war. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts (LG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) verletzen den Bf hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Schuldspruch blieb unberührt. Das Ausgangsverfahren wurde an das LG zurückverwiesen.

Es geht um folgenden Sachverhalt:

Der Verurteilung des Bf liegt ein umfangreiches Strafverfahren, das sich ursprünglich gegen mehrere Personen richtete, zugrunde. Die Straftaten wurden 1991 und 1992 begangen. Der Bf wurde zu den Vorwürfen erstmals verantwortlich im Juni 1995 gehört. Nach Zustellung der Anklage zwei Jahre später eröffnete das LG am 1. August 2000 das Hauptverfahren. Aufgrund des Ergebnisses der 15tägigen Verhandlung wurde der Bf teilweise freigesprochen und teilweise verwarnt. Insoweit wurde die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 500 DM vorbehalten.

Der BGH hob am 22. August 2001 das landgerichtliche Urteil im Strafausspruch und hinsichtlich des Freispruchs auf, die Revision des Bf wurde verworfen. Nach erneuter Hauptverhandlung vor dem LG am 6. und 7. Juni 2002 wurde der Bf wegen derselben Straftaten wie zuvor zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 100 Euro verurteilt. Im Hinblick auf die Straftaten, deretwegen er zunächst freigesprochen worden war, wurde das Verfahren eingestellt. Das LG ging dabei von einer ungerechtfertigten Verfahrensverzögerung von zweieinhalb Jahren im Zeitraum zwischen der Anklageerhebung und dem Eröffnungsbeschluss aus. Die Voraussetzungen für eine Verwarnung mit Strafvorbehalt hielt das LG nicht für gegeben. Die Revision des Bf blieb erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde (Vb) rügt er die überlange Verfahrensdauer.

Zur Begründung heißt es in der Entscheidung der Kammer:

Die Strafgerichte haben Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verkannt.

Zum Prüfungsmaßstab führt die Kammer wie in ihrem Beschluss vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 327/02 u. a. - (vgl. insoweit Pressemitteilung Nr. 12/2003 vom 21. Februar 2003) aus:

Das Rechtsstaatsgebot erfordert, Strafverfahren angemessen zu beschleunigen. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verfahrensverzögerung verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Ob eine rechtsstaatswidrige Verzögerung vorliegt, ist anhand einer Gesamtwürdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Dabei kommt es auf die Dauer der von den Justizorganen verursachten Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen an. Unberücksichtigt bleiben Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat. Eine rechtsstaatswidrige Verzögerung muss bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs berücksichtigt werden.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in einem solchen Fall angesichts der dadurch bedingten zusätzlichen negativen Belastungen und Wirkungen für den Beschuldigten sorgfältig zu prüfen, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen die Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann. Die verfassungsrechtlich gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ergeben sich aus dem Straf- und Strafprozessrecht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. Dies kann von einer Einstellung des Verfahrens, einer Beschränkung der Strafverfolgung, über eine Beendigung des Verfahrens, durch das Absehen von Strafe oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt bis hin zu einer Berücksichtigung bei der Strafzumessung reichen. In besonders schwerwiegenden Fällen kommt die Einstellung wegen eines von Verfassungs wegen anzunehmenden Verfahrenshindernisses in Betracht.

Danach hält die Verurteilung in ihrem Strafausspruch einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.

Es ist nicht erkennbar, ob die ausgesprochenen Rechtsfolgen angesichts der von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortenden erheblichen Verzögerung des Strafverfahrens noch mit dem Prinzip verhältnismäßigen Strafens vereinbar sind. Die Verfahrensdauer von siebeneinhalb Jahren ist - für sich betrachtet - unangemessen lang. Sie ist auch nicht durch Umfang oder besondere Schwierigkeit der Sache zu rechtfertigen. Hinzu kommen nicht zu erklärende Verfahrensverzögerungen, für die allein der Umstand verantwortlich ist, dass von Seiten der Strafverfolgungsbehörden nichts unternommen worden ist. Diese betreffen außer dem Zeitraum zwischen der Zustellung der Anklage und der Eröffnung des Hauptverfahrens zumindest ein weiteres Jahr, in dem es zu keinerlei verfahrensfördernden Maßnahmen gekommen ist. Dies wird in der Entscheidung im Einzelnen dargestellt. Die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit braucht allerdings grundsätzlich nicht der ermittelten Überlänge des Verfahrens hinzugerechnet werden. Dieser Zeitbedarf folgt aus einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Strafverfahrens. Je länger ein Verfahren jedoch infolge staatlich verschuldeter Verzögerung dauert, um so größere Anstrengungen müssen Strafverfolgungsorgane und Gerichte unternehmen, das Verfahren alsbald zu einem Ende zu bringen.

Das LG hat zwar die justizbedingte überlange Verfahrensdauer und die damit für den Bf verbundenen besonderen Belastungen berücksichtigt. Es hat anstelle einer an sich verwirkten Freiheitsstrafe auf eine Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen erkannt. Dies wird jedoch der Bedeutung des durch die Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoßes gegen ein faires rechtsstaatliches Verfahren in angemessener Zeit nicht gerecht. Das LG ist nämlich bei der Bemessung der Strafe lediglich von der Strafjustiz anzulastenden Verzögerungszeiten von zweieinhalb Jahren ausgegangen. Die weiteren Zeiträume, in denen das Verfahren nicht gefördert wurde, blieben außer Betracht. Trotz dieses Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist jedoch nicht von Verfassungs wegen ein Verfahrenshindernis anzunehmen und das Verfahren vom Bundesverfassungsgericht einzustellen. Angesichts des vom Bf angerichteten Schadens sowie der Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten ist nicht jede strafrechtliche Sanktion zum jetzigen Zeitraum von vornherein als unverhältnismäßig anzusehen. Das LG hat nunmehr zwischen dem jetzt noch bestehenden Interesse an der Strafverfolgung einerseits und dem Eingriff in Rechte des Bf andererseits abwägen. Eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ist dabei im Fall rechtsstaatswidrig bedingter überlanger Verfahrensdauer nicht ausgeschlossen.

Karlsruhe, den 14. August 2003