Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Zur Verfassungsmäßigkeit des vom Arbeitgeber zu zahlenden Zuschusses zum Mutterschaftsgeld

Pressemitteilung Nr. 98/2003 vom 9. Dezember 2003

Beschluss vom 18. November 2003
1 BvR 302/96

Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung eines Zuschusses zum Mutterschaftsgeld ist grundsätzlich mit der Berufsfreiheit vereinbar. In ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung leistet sie jedoch im Widerspruch zum Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG einer Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben Vorschub und stellt deshalb keine verfassungsmäßige Beschränkung der Berufsfreiheit dar. § 14 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes ist insoweit mit Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit einer Mehrheit von fünf zu drei Stimmen.

Dem Gesetzgeber wird aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2005 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Bis zu einer Neuregelung bleibt es beim bisherigen Recht. Dies hat zugleich zur Folge, dass Entscheidungen, die bisher auf diese Regelung gestützt worden sind, verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden können. Deshalb wurde die Verfassungsbeschwerde (Vb) im Übrigen zurückgewiesen.

1. Zum rechtlichen Hintergrund und Sachverhalt:

Frauen dürfen sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden. Sie erhalten in dieser Zeit Lohnersatz. Dessen Kosten werden zwischen Arbeitgebern, gesetzlichen Krankenkassen und Staat geteilt. Die Verteilung auf diese drei Kostenträger ist seit In- Kraft-Treten des Mutterschutzgesetzes im Jahre 1952 mehrfach verändert worden. Die zur Zeit geltende Regelung (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Mutterschutzgesetz [MuSchG]) sieht Entgeltersatzansprüche in Höhe des vor Eintritt des Mutterschutzes erzielten Nettoentgelts vor. Frauen, die Mitglied einer Krankenkasse sind, erhalten danach ein Mutterschaftsgeld von 25 DM (13 Euro) pro Kalendertag von der Krankenkasse sowie, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stehen, einen Zuschuss in Höhe der Differenz zu ihrem Nettoverdienst vom Arbeitgeber. Frauen, die nicht Mitglied einer Krankenkasse sind, erhalten ein Mutterschaftsgeld zu Lasten des Bundes in Höhe von insgesamt 400 DM (210 Euro) vom Bundesversicherungsamt sowie den Arbeitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis stehen. Da die Einkommen gestiegen sind und das Mutterschaftsgeld seit 1968 nicht erhöht worden ist, hat sich das Verhältnis von Arbeitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld zu Lasten der Arbeitgeber verschlechtert. Seit Januar 1986 existiert zur finanziellen Entlastung von Arbeitgebern, die in der Regel nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen (Kleinunternehmen), ein Ausgleichs- und Umlageverfahren. Dieses bindet die Kostenlast durch den Mutterschutz nicht mehr an die Beschäftigung von Frauen, um dadurch drohende Beschäftigungshindernisse für Arbeitnehmerinnen im gebärfähigen Alter abzubauen. Die Mittel zur Durchführung des Ausgleichs der Arbeitgeberaufwendungen werden durch eine Umlage von den am Ausgleich beteiligten Arbeitgebern aufgebracht. Die Umlagebeträge bemessen sich dabei nicht an der Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmerinnen, sondern nach der Gesamtzahl der Beschäftigten. Auch solche Arbeitgeber sind in das Verfahren miteinbezogen, die keine Frauen beschäftigen. Das Umlageverfahren erfasst rund 90 % der Unternehmen, in denen allerdings nur etwa ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und ein Viertel der Arbeitnehmer beschäftigt sind.

Die Beschwerdeführerin (Bf) im zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerde- Verfahren beschäftigt in ihrem Unternehmen rund 100 Arbeitnehmer, davon zur Hälfte Frauen. Eine bei ihr angestellte Arbeitnehmerin wurde aufgrund der Beschäftigungsverbote vor und nach der Entbindung nicht beschäftigt. Die gesetzliche Krankenkasse zahlte ihr insgesamt 2500 DM Mutterschaftsgeld. Die Bf weigerte sich, der Arbeitnehmerin den der Höhe nach unstreitigen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld von insgesamt 3335,72 DM zu zahlen. § 14 Abs. 1 Satz 1 MuSchG sei verfassungswidrig. Die Arbeitsgerichte hielten hingegen die Verpflichtung der Bf zur Zahlung des Zuschusses zum Mutterschaftsgeld in allen Instanzen für verfassungsgemäß. Dagegen richtet sich die Vb der Bf. Ihre Berufsausübungsfreiheit werde durch die Zuschusspflicht zum Mutterschaftsgeld unverhältnismäßig beschränkt. Der Mutterschutz liege im vorrangigen Interesse der Gemeinschaft aller Bürger, er sei deshalb im Wesentlichen aus Steuermitteln zu finanzieren.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es im Wesentlichen:

a. Die Beeinträchtigung der Berufsfreiheit des Arbeitgebers durch die Verpflichtung, einen Zuschuss zum Mutterschaftsgeld zu leisten, ist durch hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt und genügt - vorbehaltlich der aus dem Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetzes zu ziehenden Folgerungen - auch den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Zuschusspflicht des Arbeitgebers ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels, die arbeitende Mutter und das werdende Kind vor arbeitsplatzbedingten Gefahren zu schützen, geeignet und erforderlich. Die Zuschusspflicht ist für die Bf auch grundsätzlich zumutbar. Die den Arbeitgebern auferlegte finanzielle Belastung ist wirtschaftlich für die Unternehmen tragbar. Ein Arbeitgeber ist im Durchschnitt mit nur einer Schwangerschaft je Arbeitnehmerin belastet. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall erfordert für einen einzigen Monat eine höhere Summe als der Zuschuss während des dreimonatigen Beschäftigungsverbots vor und nach der Entbindung. Die Belastung aus dem Mutterschutz trifft alle Unternehmen, sei es bei Kleinunternehmen durch Beteiligung an der Umlage, sei es bei anderen Unternehmen durch die Pflicht zur Zahlung des Zuschusses der Arbeitnehmerin. Für Kleinunternehmen, die rund 90 % der Arbeitgeber ausmachen, ist das Ausgleichs- und Umlageverfahren eingeführt worden. Dieses wirkt dem Risiko einer ungleichen Belastung durch einen hohen Frauenanteil an der Belegschaft und das Zusammentreffen mehrerer Schwangerschaften entgegen. Bei mittleren und großen Unternehmen hat der Gesetzgeber die Belastung im Verhältnis zur Lohnsumme als minimal eingeschätzt. Nach dem Grundgesetz ist der Staat verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, die Kosten des Mutterschutzes allein zu tragen.

Bei der Umsetzung der sozialpolitischen Aufgabe des Mutterschutzes hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Die damit verbundenen Kosten dürfen daher von Verfassungs wegen grundsätzlich zwischen Bund, Krankenkassen und Arbeitgeber aufgeteilt werden. Trotz des gestiegenen Anteils der Arbeitgeberleistungen überwiegen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung die öffentlichen Leistungen für den Schutz von Mutter und Kind bei weitem die Belastungen der Arbeitgeber. Auch die besondere Verantwortungsbeziehung des Arbeitgebers zur Aufgabe Mutterschutz liegt vor. Die Gefahren, vor denen Mutter und Kind geschützt werden sollen, resultieren unmittelbar aus dem Arbeitsverhältnis. Für die gesetzlich vermutete Gefährdung ist der jeweilige Arbeitgeber verantwortlich.

b. Die gebotene systematische Verfassungsinterpretation verlangt aber, das Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 GG zu berücksichtigen, und mittelbare und faktische Diskriminierung zu beseitigen. Die Regelung des § 14 Abs. 1 Satz 1 MuSchG beschränkt insoweit die Berufsausübungsfreiheit unangemessen, weil sie das Gleichberechtigungsgebot verletzt. Dieser Schutzauftrag betrifft die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter für die Zukunft. Frauen müssen die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer. Diesem Schutzauftrag widerspricht die Zuschusspflicht des Arbeitgebers zum Mutterschaftsgeld in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung. Das Ausgleichs- und Umlageverfahren stellt wegen seiner Begrenzung auf Kleinunternehmen keinen hinreichenden Ausgleich da. Faktischer Diskriminierung von Frauen wirkt der Gesetzgeber zum einen durch das Verbot geschlechtsbezogener Benachteiligung bei der Einstellung entgegen. Zum anderen werden im Anwendungsbereich des vom Gesetzgeber geschaffenen Ausgleichs- und Umlageverfahrens ungleiche Belastungen von Unternehmen mit unterschiedlich hohem Frauenanteil vermieden, um Beschäftigungshindernisse für Frauen zu reduzieren. Insoweit sind die Anforderungen des Gleichberechtigungsgebots erfüllt. Das Ausgleichs- und Umlageverfahren ist jedoch auf Kleinunternehmen beschränkt. Der Gesetzgeber hat größere Unternehmen in das Ausgleichs- und Umlageverfahren wegen des Verwaltungsaufwands nicht einbezogen. Bei ihnen glichen sich im Übrigen langfristig die Höhe der Mutterschaftsleistung und die Umlage aus. Derartige bloße Praktikabilitätserwägungen rechtfertigen es jedoch nicht, das Risiko einer faktischen Diskriminierung von Frauen in Kauf zu nehmen. Ein einheitliches Umlagesystem, das nicht mehr nach Unternehmensgröße unterschiede, böte verschiedene Vorteile wie etwa die Verbreiterung der Beitragsbasis. Diese werden in den Gründen der Entscheidung im Einzelnen dargestellt.

c. Die danach gegebene Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 1 Satz 1 MuSchG mit Art. 12 Abs. 1 GG führt nicht zur Nichtigkeit der Regelung. Mit dem Umlageverfahren steht zwar ein einfaches System zur Verfügung, um die ungleiche Belastung einzelner Arbeitgeber infolge des Mutterschutzes durch Geldleistungen auszugleichen. Der Gesetzgeber muss aber von Verfassungs wegen nicht das Ausgleichs- und Umlageverfahren ausweiten. Er kann im Rahmen seines Gestaltungsermessens entscheiden, wie er dem Gebot des Art. 3 Abs. 2 GG nachkommt. Legt der Gesetzgeber in Erfüllung seines Schutzauftrages zu Gunsten der Mutter dem Arbeitgeber Lasten auf, ist durch geeignete Regelungen im Rahmen des Möglichen der Gefahr zu begegnen, dass sich die Schutzvorschriften auf Arbeitnehmerinnen faktisch diskriminierend auswirken.

Karlsruhe, den 9. Dezember 2003