Bundesverfassungsgericht

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Streichung der zehnjährigen Höchstgrenze bei einer erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung

Pressemitteilung Nr. 10/2004 vom 5. Februar 2004

Urteil vom 05. Februar 2004
2 BvR 2029/01

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute verkündetem Urteil die Verfassungsbeschwerde eines Straftäters zurückgewiesen, der über die früher gesetzlich geregelte Höchstgrenze von zehn Jahren hinaus in der Sicherungsverwahrung untergebracht ist. Ohne die von dem Beschwerdeführer angegriffene Neuregelung wäre er im Jahr 2001 wegen Ablaufs der Zehnjahresfrist aus dem Maßregelvollzug zu entlassen gewesen. Das Bundesverfassungsgericht stellt in dieser Entscheidung nicht nur fest, dass die Rechtsgrundlage zur Streichung der zehnjährigen Höchstgrenze mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Vielmehr enthält die Entscheidung grundlegende Aussagen zur Vereinbarkeit der Sicherungsverwahrung in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung mit der Garantie der Menschenwürde und dem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG.

Wegen des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 79/2003 vom 2. Oktober 2003 verwiesen.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

1. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ohne gesetzlich geregelte Höchstgrenze verstößt nicht gegen die Garantie der Menschenwürde. Die Menschenwürde wird auch durch eine lang dauernde Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten erforderlich ist. Die vom Grundgesetz vorgegebene Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums rechtfertigen es, unabdingbare Maßnahmen zu ergreifen, um wesentliche Gemeinschaftsgüter vor Schaden zu bewahren. Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern. Erforderlich ist aber auch in diesen Fällen, die Eigenständigkeit des Untergebrachten zu wahren, seine Würde zu achten und zu schützen. Daher muss die Sicherungsverwahrung ebenso wie der Freiheitsentzug darauf ausgerichtet sein, die Voraussetzungen für ein verantwortliches Leben in Freiheit zu schaffen.

Diesem Maßstab genügt die Sicherungsverwahrung in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung. Die Garantie der Menschenwürde gebietet es nicht, schon bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen fortdauernder Gefährlichkeit oder zu einem späteren Überprüfungszeitpunkt über den voraussichtlichen Entlassungszeitpunkt im vorhinein verbindlich zu entscheiden. Denn die Prognose einer Gefahr ist immer nur in der Gegenwart für die Zukunft möglich. Wie lange diese Gefahr fortbestehen wird, hängt von zukünftigen, nicht sicher vorhersehbaren Entwicklungen ab. In jedem Vollzugsstadium der Maßregel wird überprüft, ob der Betroffene freigelassen werden kann. Die wiederkehrenden Überprüfungen von Aussetzungs- und Erledigungsreife der Sicherungsverwahrung gewährleisten dem Betroffenen die angemessene Rechtssicherheit auch in verfahrensmäßiger Hinsicht.

Die Sicherungsverwahrung ist in ihrer gesetzlichen und tatsächlichen Ausgestaltung auf Resozialisierung ausgerichtet. Dieses Vollzugsziel sowie die Verpflichtung, möglichen Haftschäden entgegen zu wirken, gelten auch für die Verwahrten. So sollen etwa nach dem Strafvollzugsgesetz neben den allgemeinen Hafterleichterungen privilegierte Haftbedingungen zu einer sinnvollen Lebensgestaltung des Verwahrten beitragen. In der Vollzugspraxis handelt es sich nach den Angaben der Landesregierungen auch nicht um einen reinen Verwahrvollzug gefährlicher Straftäter.

2. Ein Verstoß gegen das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG liegt ebenfalls nicht vor. Die Sicherungsverwahrung stellt unter Berücksichtigung der nachfolgenden Erwägungen eine verfassungskonforme Grundrechtseinschränkung dar.

Mit der möglicherweise lebenslangen Sicherungsverwahrung verbindet sich zwar ein schwerwiegender Grundrechtseingriff. Er verstößt jedoch nicht gegen die Wesensgehaltsgarantie, weil die Neuregelung die Fortdauer des Maßregelvollzugs nach Ablauf von zehn Jahren nur erlaubt, wenn er dazu dient, schwere Schäden an der seelischen oder körperlichen Integrität potentieller Opfer zu verhindern.

Die Neuregelung genügt den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Eignung und Erforderlichkeit des von ihm gewählten Mittels sowie der dabei notwendigen Einschätzung und Prognose des Gefahrenpotentials ist vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt überprüfbar. Die Prognoseunsicherheiten im Zusammenhang mit der Unterbringung wirken sich auf die Mindestanforderungen an Prognosegutachten und deren Bewertung im Zusammenhang mit dem Übermaßverbot aus, beseitigen aber weder die Eignung noch die Erforderlichkeit des Freiheitseingriffs. Im übrigen hat sich in der Praxis der forensischen Psychiatrie das Wissen um die Risikofaktoren in den letzten Jahren erheblich verbessert. Gerade für die seltenen Fälle hochgradiger Gefährlichkeit bildet sie eine taugliche Entscheidungsgrundlage. Der Freiheitsentzug muss zumutbar bleiben, um eine übermäßige Belastung zu vermeiden. Das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen ist sowohl auf der Ebene des Verfahrensrechts als auch materiell abzusichern.

iesen materiellen Anforderungen des Übermaßverbots kommt der Gesetzgeber nach, indem er für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren deutlich engere Voraussetzungen vorsieht als die vorangegangenen Entscheidungen über Anordnung, Vollstreckung und Aussetzung der Maßregel. Zum einen stellt die Neuregelung erhöhte Anforderungen an das bedrohte Rechtsgut und die drohenden Straftaten. Sie bleibt im Ergebnis auf schwere Sexual- und Gewalttäter beschränkt. Zum anderen begründet sie ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Nach der gesetzlichen Neuregelung hat sich die Gefährlichkeit nach Ablauf von zehn Jahren regelmäßig erledigt. Eine Fortsetzung der Maßregel jenseits dieser Grenze kommt nur als ultima ratio bei demjenigen in Betracht, dessen nunmehr vermutete Ungefährlichkeit positiv widerlegt ist. Verfahrensrechtlich ist den Anforderungen des Übermaßverbots ebenfalls Genüge getan. Der Gesetzgeber hat ein System regelmäßiger Überprüfung von Aussetzungs- und Erledigungsreife sowie die Voraussetzungen für eine sorgfältige Aufklärung der Prognosegrundlagen geschaffen. Bei Anwendung dieser Vorschriften muss der Richter jedoch bestimmten Sorgfaltsanforderungen genügen, um dem Übermaßverbot zu entsprechen. Insbesondere hat sich die Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf ein Sachverständigengutachten zu stützen, das dem Ausnahmecharakter dieser Entscheidung gerecht wird. Wiederholende Routinebeurteilungen sind zu vermeiden. Deshalb muss der Richter den Gutachter sorgfältig auswählen und kontrollieren. Diese Kontrolle muss das Prognoseergebnis und die Qualität der gesamten Prognosestellung umfassen. Neben dem Gebot der Transparenz gilt für das psychiatrische Prognosegutachten das Gebot hinreichend breiter Prognosebasis. Für die Prognosebasis besitzen Vollzugslockerungen besondere Bedeutung. Deshalb darf sich das Vollstreckungsgericht nicht damit abfinden, dass die Vollzugsbehörde ohne hinreichenden Grund Vollzugslockerungen versagt hat, welche die Erledigung der Maßregel vorbereiten können. Schließlich ist der besondere Charakter der Sicherungsverwahrung auch im Rahmen der Maßregelvollstreckung zu berücksichtigen. Zwar rechtfertigen stichhaltige Gründe eine partielle Übereinstimmung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung mit dem der Strafe. Jedoch haben die Landesjustizverwaltungen die gesetzlichen Möglichkeiten der Besserstellung im Vollzug soweit auszuschöpfen, wie sich dies mit den Belangen der Justizvollzugsanstalten verträgt.

3. Das absolute Rückwirkungsverbot des Art.103 Abs.2 GG ist nicht verletzt. Dieses umfasst die Maßregeln der Besserung und Sicherung des Strafgesetzbuchs nicht.

Der Anwendungsbereich des absoluten Rückwirkungsverbots ist auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten hoheitlich missbilligen und wegen dieses Verhaltens ein schuldausgleichendes Übel verhängen. Neben der Entstehungsgeschichte der Verfassungsnorm bestätigen dies systematische sowie am Gesetzeszweck orientierte Überlegungen: Das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist in der Menschenwürdegarantie und im Schuldprinzip verankert. Der strafrechtliche Schuldvorwurf setzt voraus, dass der Maßstab der Entscheidung von vornherein gesetzlich festgelegt ist. Nur wer diesen Maßstab kennen und sich auf die Rechtsfolgen seines Tuns einstellen kann, ist verantwortliches Subjekt. Der Bürger soll die Grenzen des straffreien Raumes klar erkennen, um sein Verhalten daran auszurichten. Der Staat darf die Bewertung des Unrechtsgehalts einer Tat nicht nachträglich zum Nachteil des Täters ändern. Diesem Normzweck dient die Sicherungsverwahrung nicht. Sie ist im Gegensatz zur Freiheitsstrafe weder mit der Missbilligung vorwerfbaren Verhaltens verknüpft noch bezweckt sie den Ausgleich strafrechtlicher Schuld. Sie zielt vielmehr ausschließlich auf die Verhütung künftiger Rechtsbrüche. Auch Gemeinsamkeiten von Strafe und Sicherungsverwahrung in der gesetzlichen Ausgestaltung führen nicht dazu, die Sicherungsverwahrung als Bestrafen einer Tat im Sinne des absoluten Rückwirkungsverbots einzuordnen. Die Parallelen zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung beruhen insbesondere darauf, dass im modernen Strafrecht auch die Strafe im Rahmen angemessenen Schuldausgleichs auf Spezialprävention zielt. Dieser Umstand wirkt sich jedoch nicht auf die Qualität der Sicherungsverwahrung als eines reinen Sicherungsinstrumentes aus. Ebenso wenig kommt der Maßregel repressive Funktion wegen Ähnlichkeiten in der Ausgestaltung des Vollzugs von Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe zu.

4. Die Neuregelung ist auch mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot nach Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar.

Es handelt sich um eine zulässige tatbestandliche Rückanknüpfung. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es bedarf deshalb einer besonderen Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolgen eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert. Der Vergangenheitsbezug der Neuregelung ergibt sich daraus, dass sie auch Fälle betrifft, in denen die Sicherungsverwahrung vor Verkündung der Neuregelung erstmalig angeordnet worden ist. Der Wegfall der Höchstfrist wirkt aber nicht auf einen Zeitpunkt vor Inkrafttreten der Neuregelung zurück und ändert keinen abgeschlossenen Sachverhalt. Denn die Anordnung der Sicherungsverwahrung hing schon nach altem Recht nicht von den Umständen zum Zeitpunkt der Anlasstat, sondern von den Gegebenheiten zum Urteilszeitpunkt ab. Ebenso wenig ändert die Neuregelung die im Strafurteil rechtskräftig festgesetzten Rechtsfolgen zum Nachteil des Betroffenen. Die Zehnjahresfrist war nicht Bestandteil des unter alter Rechtslage ergangenen Strafurteils, wurde also nicht rechtskräftig. Die Neuregelung erfasst ausschließlich Personen, gegen die die Maßregel bei In-Kraft-Treten der Norm noch vollstreckt wurde. Bei diesen Personen hängt der Eintritt der neu geregelten Rechtsfolge auch von Umständen ab, die erst später eingetreten sind, so insbesondere dem Vollzugsverhalten. Die Entscheidung über die Erledigung beruht mithin auf einem Sachverhalt, der weder zum Zeitpunkt der Tat noch zu dem des Urteils oder des In-Kraft-Tretens der Neuregelung abgeschlossen war.

Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf den Fortbestand der bisherigen Zehnjahresgrenze stand nach den Regelungen zur zeitlichen Geltung des Strafgesetzbuchs (§ 2 Abs. 6 StGB) von Anfang an unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Änderung. Die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit überwiegt das Vertrauen der Betroffenen auf den Fortbestand der alten Zehnjahresgrenze. Der Staat hat die Aufgabe, die Grundrechte potentieller Opfer vor Verletzungen durch potentielle Straftäter zu schützen. Diese Schutzpflicht des Staates ist umso intensiver, je mehr die Gefährdung sich konkretisiert und individualisiert und je stärker sie elementare Lebensbereiche betrifft. Es ist daher trotz des hohen Werts des Freiheitsgrundrechts verfassungsrechtlich unbedenklich, die Neuregelung auch auf diejenigen Untergebrachten anzuwenden, bei denen die Sicherungsverwahrung vor der Gesetzesänderung angeordnet worden war. Die Entscheidung ist hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot mit 6 zu 2 Stimmen ergangen.

Karlsruhe, den 5. Februar 2004